"Ohne Wahlen wäre die soziale Bombe schon explodiert"
Welches ist die grösste Herausforderung für Venezuela?
Das größte Problem ist die Armut. Sie ist nach 16 Jahren Sozialismus wieder genauso hoch wie zu Anfang dieses Experiments. 16 der 30 Millionen Venezolaner sind arm, und 80 Prozent können von ihrem Gehalt nicht überleben. Neun Millionen hängen von staatlicher Sozialhilfe ab.
Trotz dieser Zahlen sind Proteste ausgeblieben.
Das liegt an diesen Wahlen, denn sie haben die Hoffnung auf einen Wandel geweckt. Sonst wäre die Bombe wahrscheinlich schon explodiert.
Was wird die Opposition machen, wenn sie am Sonntag gewinnt?
Vor allem einen kühlen Kopf behalten. Mein Flügel wird voraussichtlich der stärkste werden, und das sehe ich als Bestätigung für unseren Weg, auf politische Basisarbeit und Wahlen zu setzen. Das war kein einfacher Weg, denn innerhalb der Opposition glaubten viele nicht, dass wir über die Urnen gewinnen können.
Sie haben daran keine Zweifel?
Die Regierung kann die Wahlen praktisch nicht gewinnen.
Aber Präsident Maduro hat angekündigt, dass er die Revolution notfalls auf der Strasse verteidigen wird.
Und ich frage mich, wer ihn dabei begleiten soll. Laut Umfragen haben wir doppelt so viel Stimmen wie die Regierung.
Aber 30 Prozent werden vermutlich für die Regierung stimmen. Was passiert mit ihnen?
Wir bieten ihnen eine Versöhnung an und Lösungen, diese Krise zu beenden. Diese 30% beunruhigen mich nicht.
Was fürchten Sie dann?
Ich fürchte die Wochen bis zur Amtseinführung des neuen Parlaments am 5. Januar. In dieser Phase kann es sein, dass die Regierung versucht, die Demokratie auszuhebeln.
Wie zum Beispiel?
Indem sie versucht, die Macht des neuen Parlaments zu beschränken, etwa durch neue Ermächtigungsgesetze für die Regierung.
Was machen Sie dann?
Das müssen wir zum gegebenen Zeitpunkt gemeinsam entscheiden. Die Verfassung sieht mehrere Möglichkeiten vor, zum Beispiel, ein Abberufungsreferendum in Gang zu setzen. Wir könnten die Ermächtigungsgesetze auch wieder rückgängig machen.
Wäre ein solcher Schritt Maduros klug?
Nein, das würde ihn noch weiter schwächen. Wenn er agiert wie ein Politiker, müsste er jetzt der Opposition Raum zugestehen. Denn das Land will, dass wir gemeinsam Lösungen für die Wirtschaftskrise finden. Die Sozialistische Einheitspartei wird eine wichtige politische Kraft bleiben, aber viele ihrer Mitglieder rücken bereits näher an die Opposition.
Wie kann das Parlament zur Lösung der Wirtschaftskrise beitragen?
Es ist Ausdruck des Volkswillens, verabschiedet den Haushalt und kontrolliert die Regierung. Da stellen wir schnell fest, wofür der Staat Geld ausgibt und können darüber dann öffentlich debattieren.
Was passiert, wenn die Regierung das Parlament blockiert oder aushebelt?
Ich denke, wir sollten der Regierung drei Monate Zeit geben, sich auf die neue Lage einzustellen. Wenn Maduro dann keinen Rettungsplan verabschiedet und unsere Vorstöße ignoriert, müssen wir die in der Verfassung vorgesehen Mechanismen aktivieren, um die Blockade zu beenden.
Interview: Sandra Weiss, Caracas; Foto: Daniel Guarache, CC BY 2.0