Bischöfliche Aktion Adveniat e.V.
Peru |

Mit zweierlei Maß

Ende Oktober wurde ein vermisster Student tot aufgefunden. Das Medieninteresse war enorm, ganz Peru ertrank in Mitgefühl. Als zur selben Zeit 20 Opfer eines Massakers exhumiert werden - darunter zehn Kinder - will niemand etwas davon wissen. Autor Wilfredo Ardito Vega über Straflosigkeit, Verdrängungsleistungen und das Mitgefühl seiner Landsleute.

Ende Oktober scheuchten die Medien Leser und Fernsehzuschauer mit der Nachricht auf, dass die Leiche des vermissten Studenten Ciro Castillo Rojo gefunden wurde. Er war seit einem Ausflug ins Valle del Colca (Department Arequipa) im vergangenen April verschwunden. Zur selben Zeit wurden in der Gemeinde Chungui (Department Ayacucho) die sterblichen Überreste von 20 Personen exhumiert, die in den achtziger Jahren brutal von Militärs niedergemetzelt wurden. Unter den Toten in Chungui befanden sich auch zehn erschossene Kinder, die Hälfte von ihnen war noch keine fünf Jahre alt.

Kollektive Verdrängungsversuche

Der makabre Fund von Chungui spiegelt die Straflosigkeit gegenüber vielen Militärs und Soldaten wider, die ähnliche Verbrechen gegenüber Tausenden Bauern und Bäuerinnen in den achtziger Jahren begingen, von Umasi bis Putis. Diese Straflosigkeit steht in scharfem Kontrast zur lebenslangen Haftstrafe, die ‒ ebenfalls in der letzten Oktoberwoche ‒ in Argentinien gegen den Militär Alfredo Astiz verhängt wurde, weil er für Folter, Morde und das gewaltsame Verschwindenlassen von Dutzenden Personen während der Militärdiktatur verantwortlich ist. Unter den Opfern war auch die Begründerin der „Mütter der Plaza de Mayo“.

In Peru hingegen meinen viele Leute, es sei besser die fürchterlichen Menschenrechtsverbrechen einfach zu vergessen und diejenigen, die für diese Gräueltaten verantwortlich sind, in Frieden leben zu lassen. Als sich die Massaker und das gewaltsame Verschwindenlassen ereigneten, zog man es deshalb vor zu glauben, dass die Anzeigen falsch seien. Und die Verbrechen wurden auch damit gerechtfertigt, dass die Ermordeten und Verschwundenen „ganz sicher irgendetwas angestellt haben“.

Überraschende Reaktion auf den Fall Ciro

Als die Wahrheitskommission es nach Jahren des vorsätzlichen Vergessens wagte, an diese Geschehnisse zu erinnern, wurde sie beschuldigt „Wunden wieder aufzureißen“. Der Aufschrei wurde nicht leiser als sich die Kommission auch noch getraute zu konstatieren, dass die Verbrechen während mehrerer Jahre ‒ in der Regierungszeit von Präsident Fernando Belaúnde ‒ systematisch begangen wurden.

Die Gleichgültigkeit so vieler Menschen angesichts des Verschwindens ihrer Landsleute aus Ayacucho und die Anstrengungen der Familien, ihre Angehörigen wieder zu finden, würden eine zutiefst unsensible Gesellschaft zeigen ... Doch Ende Oktober schien es, als lebten wir in einem Land voller Mitgefühl, als große Menschenmengen zu sehen waren, die tief bewegt, betend und weinend und Blumen bei sich tragend, an der Leiche von Ciro vorbeidefilierten, sowohl in Arequipa, als auch später in Lima.

Wenig Anteilnahme und Solidarität

Weder die Opfer des Brandes in der Diskothek „Utopía“ im Jahr 2002 noch die Opfer des Brandes im Handelszentrum „Mesa Redonda“ haben eine ähnliche kollektive Reaktion hervorgerufen. Auch im einsamen Kampf um Gerechtigkeit, den die Eltern von Gerson Falla seit Monaten führen, weil dieser im Polizeirevier des Hauptstadtbezirks San Borja gefoltert und ermordet wurde, oder im Fall von Fernando Calderón, den einige Polizisten in Palermo (Trujillo) in Brand gesteckt und umgebracht hatten, oder im Fall von Brigitte Acuña, die im Polizeikommissariat von Salamanca durch Polizistenhand starb, war die Solidarität nicht sonderlich groß.

In diesem Wahljahr hatten verschiedene Medien das Verschwinden des Studenten je nach politischer Konjunktur zur Ablenkung benutzt. Deshalb gelang es, die Aufmerksamkeit vom Offensichtlichen abzulenken: Dass Ciro und Rosario Ponce, als sie in ein gefährliches Gebiet gingen, das ihnen unbekannt war, Opfer ihres eigenen Leichtsinns wurden. Ein Leichtsinn, dem Tausende zum Opfer gefallen sind und der weiterhin viele Tote in Peru fordert, während die verantwortlichen Behörden nur mit den Schultern zucken. Doch statt von Leichtsinn zu sprechen schien es ‒ völlig unverantwortlich ‒ angemessener anzudeuten, es habe einen Mord gegeben.

„... mit Sicherheit kein guter Mensch“

Für die öffentlichkeit ist es viel einfacher, Empathie angesichts eines Verbrechens zu empfinden, dass keinerlei politische Hintergründe hat und keinen Status Quo gefährdet. Deshalb wurden die Eltern der Verschwundenen aus Ayacucho, die so sehr darum gekämpft haben, ihre Kinder zu finden und Gerechtigkeit walten zu lassen, als ewig Gestrige beschimpft, während die Eltern von Ciro wie Helden gefeiert werden, weil sie dasselbe taten. Allerdings konnten Ciros Eltern auf die Hilfe von Medien und Behörden zählen. Obendrein unterstützten viele Leute den Vater von Ciro als dieser, ohne irgendeinen Beweis dafür zu haben, Rosario des Mordes beschuldigte. Verschiedene Leute haben zu mir gesagt: Da diese Frau einen Sohn aus einer früheren Beziehung hat, ist sie „mit Sicherheit kein guter Mensch.“

So entsteht der Eindruck, die Peruaner hätten sehr unterschiedliche Gefühle bezüglich Tötungsdelikten: Es gibt Personen, die von vornherein als Mörderinnen angesehen werden, während es Mörder gibt, die es verdienen, in Freiheit zu leben. Und oft gibt es dafür eine moralische Rechtfertigung: Es gibt jene, die es verdienen zu sterben, jene, die es verdienen sie umzubringen, und jene, deren Leben nichts wert ist. Als der Polizeioffizier Elidio Espinoza, angeklagt wegen der außergerichtlichen Hinrichtung von vier Straftätern im Ort Trujillo im Jahr 2007, vor einigen Wochen freigesprochen wurde, waren viele Einwohner der Stadt zufrieden ‒ nicht etwa, weil sie gewusst hätten, dass er unschuldig ist, denn alle Welt weiß: er ist es nicht. Nein, sie waren erleichtert, weil er zwar Schuld war, aber nicht verurteilt wurde.

Gleichgültigkeit bei großen Tragödien

Ich hoffe, man verzeiht mir, aber: Es gab so viel generelle Betroffenheit in den Beerdigungsfeiern von Ciro Castillo Rojo, dass ich mich unwohl fühlte, denn ich erinnerte mich an die Gleichgültigkeit bei anderen Tragödien. Aber noch schlechter fühlte ich mich als ich hörte, wie einige Leute gegen die angebliche Mörderin wetterten. Beide Situationen führten dazu, dass ich ein Gefühl der Distanz zu von meinen Landsleuten spürte. Das Gefühl ähnelte den Empfindungen, die ich vor Jahren gespürt hatte, als das Einkaufszentrum Mesa Redonda brannte und 500 Menschen starben. Zwei Tage später wurde Neujahr gefeiert, als sei nichts geschehen ... und Feuerwerkskörper detonierten überall.

Trotzdem, ich glaube weiterhin fest daran, dass diejenigen, die in Peru Verbrechen begingen, wie Alfredo Astiz sie in Argentinien begangen hat, tatsächlich verurteilt werden und die Tausenden Opfer die Solidarität ihrer Landsleute spüren.

Autor: Wilfredo Ardito Vega in Adital; Deutsche Bearbeitung: Bettina Hoyer

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