Jedem Kind und jeder Familie eine Chance
In keinem Land Lateinamerikas sind so viele Kinder unterernährt wie in Guatemala. Schwester Geanni Ramos bildet mit Hilfe des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat Frauen und Männer aus, die junge Familien von der Schwangerschaft an begleiten und ihnen bei Themen wie Ernährung, Gesundheit und Erziehung zur Seite stehen.
Samstagmorgen: Schwester Geanni Ramos ist in aller Frühe unterwegs nach Chiquimula im Osten Guatemalas, nahe der Grenze zu Honduras. Schwerfällig schiebt sich der Jeep die steilen Anhöhen hinauf. Für die rund 100 Kilometer ist Geanni viele Stunden auf der Schotterstraße unterwegs. Es geht zur Ausbildung der „Animadores“, engagierter Frauen und Männer, die in ihren Dörfern Familien ehrenamtlich begleiten.
Die „Pastoral de la Primera Infancia“ (die „Kleinkindpastoral“) wurde 2008 von den guatemaltekischen Bischöfen als Antwort auf die prekäre Gesundheitsversorgung und die schlechte Ernährungssituation gegründet. Jedes zweite Kind in Guatemala ist chronisch unterernährt, die Müttersterblichkeit ist die vierthöchste in Lateinamerika. Diese vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat finanziell unterstützte Familienhilfe begleitet Familien bereits während der Schwangerschaft und berät Eltern rund um die psychische und medizinische Gesundheitsvorsorge. Gesunde Ernährung und Entwicklungskontrolle sind genauso Teil des Programms wie Wertevermittlung und Gestaltung eines Familienlebens, das eine gesunde Entwicklung der Kinder ermöglicht.
Menschenleben retten
Als Geanni Ramos im kleinen Dorf Jocotán ankommt, ist die Wiedersehensfreude groß. Wegen der Coronapandemie konnte sie die Familien und Gesundheits-Begleiter viele Monate nicht persönlich treffen. Kontakt gehalten haben sie über das Telefon – aber das ist nicht dasselbe. Jetzt sitzen sie zusammen auf dem Platz vor der Kirche, plaudern und tauschen Neuigkeiten aus. Es wird gemeinsam gesungen, gebetet – und gelernt: Heute steht das Thema „Kinderimpfungen“ auf dem Programm und Geanni erklärt, warum dieser Schutz so wichtig ist. Einigen Frauen fällt es sichtlich schwer, die kurzen Texte aus dem Arbeitsbuch laut vorzulesen. Doch alle strengen sich an, während Geanni ihnen aufmunternd zunickt. „Für unsere Begleiter ist es eine große Aufgabe vor Gruppen zu sprechen, einige können kaum lesen und schreiben“, erzählt sie anschließend. Hier, in den entlegensten und ärmsten Regionen des Landes, hätten viele den Glauben daran verloren, etwas verändern zu können. „Und dann werden sie sich bewusst, wozu sie in der Lage sind und dass sie mit dem, was sie tun, Menschenleben retten“, sagt Geanni und deutet stolz auf die Gruppe.
Dass sie Ordensschwester ist, sieht man ihr nicht auf den ersten Blick an: Sie trägt T-Shirt und Jeans und lebt in Guatemala-Stadt in einer Wohngemeinschaft mit zwei weiteren Schwestern. Geanni Ramos wurde 1973 in Guatemala geboren, sie studierte Theologie, Literatur- und Sprachwissenschaft. Danach arbeitete sie viele Jahre für das „Instituto Guatemalteco de Educación Radiofónica“ (IGER), eine landesweite Organisation von Radioschulen, die Menschen auch in den abgelegenen Regionen eine Möglichkeit der Aus- und Weiterbildung bietet.
Im Alter von 32 Jahren entschloss sich Geanni Ramos, Ordensschwester zu werden. Lange habe sie mit sich gerungen, auch wenn sie die Berufung immer gespürt habe, erzählt sie. Schließlich schloss sie sich der Gemeinschaft der „Hermanas en la Diaconía“ („Schwestern im diakonischen Dienst“) an, die sich, dem Beispiel Marias folgend, in den Dienst Gottes stellen und in sozial-caritativen und pädagogischen Bereichen engagieren. „Wir fühlen uns berufen, den Ärmsten und Benachteiligten zu dienen und ihnen Entwicklungschancen zu eröffnen. Wir gehen immer dahin, wo es am nötigsten ist“, erklärt Geanni Ramos.
Immer mehr gesunde Kinder
Darum musste sie auch nicht lange überlegen, als sie 2014 das Angebot bekam, für das Erzbistum Santiago de Guatemala in der Kleinkindpastoral, deren Leiterin sie heute ist, zu arbeiten. Aufgrund ihrer Erfahrung als Lehrerin weiß sie, wie Unterernährung die Entwicklung von Kindern beeinträchtigt: „Kinder, die in den ersten tausend Tagen ihres Lebens dauerhaft unzureichend ernährt werden, tragen bleibende Schäden davon. Das ist ein Problem, das man nicht in der Schule lösen kann. Da muss man schon in der Schwangerschaft ansetzten“, erklärt sie. Darum sieht sie in der Kleinkindpastoral die Chance, etwas in ihrem Land zu verändern: „Es geht darum, jedem Kind und jeder Familie eine Chance zu geben.“
Es sind kleine Veränderungen, die in der Summe etwas in Bewegung bringen. „Früher waren meine Kinder oft krank und wir wussten nicht, was wir tun sollten“, erzählt Vilma Pérez, die seit drei Jahren Begleiterin in der Kleinkindpastoral ist. Die 42-Jährige hat selbst drei Kinder. In der Gruppe in Jocotán hat sie von Geanni gelernt, warum gesunde Ernährung in der Schwangerschaft wichtig ist und wieso Säuglinge noch kein Leitungswasser trinken sollten, wie man die altersgerechte Entwicklung des Kindes kontrolliert und was liebe- und respektvolle Erziehung bedeutet.
Nicht alles kann die Kleinkindpastoral verändern. Die Coronapandemie hat die Arbeit zusätzlich erschwert. Und manchmal reicht das Wissen um bessere Bedingungen für die Kinder nicht aus, weil die Probleme strukturell bedingt sind: die Armut, das fehlende Trinkwasser, korrupte Politiker, die an diesen Umständen nichts ändern, eine paternalistische Gesellschaft, in der Väter ihren Kindern und Frauen manchmal den Arztbesuch verwehren, oder in der 15-jährige Mädchen schon schwanger werden.
Trotzdem beobachtet Geanni Ramos Fortschritte: Früher seien viele Babys, die in den Dörfern zur Welt kamen, klein und untergewichtig gewesen, erzählt sie. „Und jetzt sehe ich immer mehr gesunde, gut ernährte Kinder.“ Unterstützt wird sie in ihrer Arbeit von Adveniat, denn es geht um weit mehr als Gesundheit: „Unsere Präsenz bei den Familien ist ein konkretes Beispiel Gottes zu sagen: ,Ich bin da! Und ich werde immer bei dir sein! Egal, was du tust und ob du mich überhaupt beachtest: Ich werde immer wieder an deine Türe klopfen, für dich das sein und dich trösten!‘ Es geht darum zu zeigen, dass Gott unter uns ist und mit uns gehen will.“