Geheimnisse unter deutschen Auswanderern in Argentinien
Buchbesprechung
Geheimnisse unter deutschen Auswanderern in Argentinien
Der Roman beginnt mit einer Schiffspassage. Friederike Soltau, eine junge, ledige Frau aus dem Rheinland, wandert 1869 nach Argentinien aus. Noch ist das südamerikanische Land nur sehr dünn besiedelt. Franziskas Brüder, die weit ab von Buenos Aires die Estancia „Las Aguilas“ bewirtschaften, sind echte Pioniere. Weil einer der Brüder an Tuberkulose erkrankt ist, hat der Familienrat beschlossen, dass die verträumte, vielleicht auch leicht psychotische Friederike ihn zu pflegen hat.
Es soll nicht die letzte Reise sein, die Mitglieder der Familie Soltau über den Atlantik antreten. „Las Aguilas“ bleibt zwar nur bis Mitte des 20. Jahrhunderts im Familienbesitz. Dennoch zieht das Landgut in der argentinischen Pampa immer wieder die Nachkommen der alten Soltaus an. Etwa den Rechtsanwalt Udo, der während des Zweiten Weltkrieges als Teenager dort war und Anfang der 1970er Jahre mit seiner zweiten Frau Sigrid auf Hochzeitsreise nach Argentinien fährt. Oder Udos Sohn Marco, ein demotivierter Langzeitstudent, der unter Depressionen leidet. Nach einem Zusammenbruch nimmt er sich eine Auszeit und macht sich mit seiner lebensfrohen Freundin Tari auf den Weg.
Spätes Entflechten verschlungener Geschichten
Mehrere Generationen der Soltaus landen immer wieder in Argentinien und sind auf der Suche nach ihren Wurzeln. Wie kaum anders zu erwarten stoßen sie auf Geheimnisse und dunkle Flecke, die aus den Erzählungen der in Europa verbliebenen oder dorthin zurückgekehrten Personen stets ausgeklammert wurden.
Der deutsche Autor Michael Ebmeyers legt in seinem lesenswerten Roman „Landungen“ die vielen Schichten der Soltau´schen Familienhistorie nach und nach frei. Dabei gestaltet Ebmeyer den Text nicht linear, sondern als Wechselspiel der Generationen. Die direkte Linie von Friederike über Christian, den ein besonderes Geheimnis umgibt, zu Udo und Marco wird erst im Laufe der Lektüre deutlich. Der Roman ist somit ein kunstvolles Geflecht. Seine Stränge sukzessive zu entwirren und die Handlungsmotive der Figuren zu erkennen, bereitet einen großen Lesespaß.
Deutsche in der Neuen Welt
Mit den „Landungen“ in Argentinien justieren die Figuren auch ihr Selbst neu aus. Friederikes Bruder Alfred etwa, eigentlich ein aufrichtiger protestantischer Pastor, muss sich mit der Mixtur aus frommem Katholizismus und indianischen Traditionen auseinandersetzen, die den Alltag der Arbeiter auf der Estancia bestimmt. Besonders Friederike ist vom uralten überlieferten Wissen und der Heilkunst der Indigenen fasziniert. Es ist spannend und erhellend festzustellen, für welches Familienmitglied die Zeit in „Las Aguilas“ eine Befreiung von alten Konventionen bedeutet, für wen eine Erweiterung des Blickes auf die Welt und wer darunter leidet oder daran zugrunde geht.
Michael Ebmeyer findet für seine so unterschiedlichen und in ihren jeweiligen Zeiten verhafteten Figuren glaubwürdige Sprachebenen: Alfreds Predigtton, teilweise schmerzhaft verbogen, weil er eine unliebsame Botschaft übermitteln will, ohne gegen das Gebot „Du sollst kein falsches Zeugnis abgeben“ zu verstoßen. Friederikes mädchenhaft klingenden Briefe an eine Jugendfreundin in Deutschland. Udos innere Verkrampfungen, die auf ein Ereignis in Argentinien zurückführen lassen und die sich mal in Selbstaufgabe, mal in unbändigem Zorn äußern. Der Sound von Marco und Tari, wenn sie sich auf einem Mittelaltermarkt in Süddeutschland kennenlernen.
Die gesamte Bedeutung Argentiniens für die Familiengeschichte der Soltaus zeigt sich erst am Schluss des Buches. Wie Michael Ebmeyer dorthin gelangt, ist durchaus ein Bravourstück.
Thomas Völkner
Michael Ebmeyer: Landungen
Zürich: Kein & Aber 2010
366 Seiten, EUR 19,90
ISBN 978-3-0369-5570-4