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Brasilien |

"Eine Zeitreise zurück ins Mittelalter"

César Muñoz von Human Rights Watch bei einem Besuch in der Haftanstalt Pedrinhas in Maranhão im Januar 2015. Foto: Human Rights Watch Brasilien
César Muñoz von Human Rights Watch bei einem Besuch in der Haftanstalt Pedrinhas in Maranhão im Januar 2015. Foto: Human Rights Watch Brasilien

Blickpunkt Lateinamerika: Die Behörden haben offenbar die Kontrolle über den Strafvollzug verloren. Was kann man jetzt machen?

Muñoz: Die Lösung liegt bei der Justiz. Heute sitzen viele Menschen in Haft, die da nicht reingehören. Ich kenne den Fall eines Mannes, der seine Strafe schon abgesessen hatte, aber trotzdem noch zehn weitere Jahre einsaß. Und zwar weil die Justiz oft einfach zu ineffizient ist. Niemand hat die Kontrolle, keiner hält Fristen ein, alles dauert sehr lange. Und im Oktober habe ich zwei Frauen in einer Haftanstalt interviewt, die seit sechs Jahren auf ihren Prozess warten. Die Justiz sorgt also dafür, dass die Gefängnisse überbelegt sind. Sie verhängen in viel zu vielen Fällen eine Untersuchungshaft, obwohl man ja alternative Möglichkeiten hätte für diese Fälle zumindest wenn es um kleinere Delikte geht, besonders Drogenkonsum.

Welches Bild hat sich Ihnen denn in den brasilianischen Gefängnissen präsentiert?

In eine brasilianische Haftanstalt zu gehen, ist eine Zeitreise, und zwar zurück ins Mittelalter. Ich habe Zellen betreten, die für sechs Gefangene ausgelegt waren, in denen aber sechzig Männer eingepfercht waren. Es gab auf dem Boden keinen Platz für sie zum Schlafen. Sie hatten Hängematten aufgespannt, und einer hat sich sogar an die Tür gebunden, um im Stehen zu schlafen und nicht umzufallen. Das sind dunkle Orte ohne Belüftung, feucht und mit einem fürchterlichen Gestank. Und in diesem Umfeld verbreiten sich natürlich Krankheiten wie Tuberkulose rasend schnell.

Wir haben die absurde Situation, dass Verurteilte, die sich gute Anwälte leisten können, nie ins Gefängnis kommen, während die Haftanstalten voll sind mit Menschen aus armen Schichten, die überhaupt noch nicht verurteilt sind. Wie kommt es dazu?

Wenn Sie in die Gefängnisse schauen, sehen Sie, dass der Anteil dunkelhäutiger Personen sehr hoch ist. Warum? Weil die meisten Insassen in flagranti auf der Straße aufgegriffen wurden. Also der typische Fall eines Kleindealers. Und das sind arme Leute, meist aus den Favelas. Es gibt auch Personen aus der Mittelschicht, die dealen, aber sie tun dies nicht auf der Straße. Deshalb wird ein bestimmter Anteil der Bevölkerung öfter bestraft als andere. Zudem funktioniert das System der Pflichtverteidiger nicht wirklich, allein deshalb, weil es nicht genug gibt. Deshalb bleiben Personen, die sich keinen privaten Anwalt leisten können, viel eher in der Haft stecken.

In Zentralamerika sehen wir bereits einige Staaten, die auf dem Weg zum Narco-Staat sind. Läuft Brasilien auch Gefahr, sich in diese Richtung zu entwickeln?

Brasilien ist in einer anderen Situation. Die Drogenbanden hier fokussieren eher auf den internen Konsum. Aber wir müssen sehen, dass Brasiliens stärkste Banden in den Gefängnissen selbst entstanden sind. Und zwar als eine Reaktion der Gefangenen heraus, sich zu beschützen. Denn der Staat beschützte sie dort nicht. Dieses Vakuum innerhalb der Haftanstalten wurde durch die kriminellen Banden ausgefüllt. Die Regierenden, egal ob linke oder rechte Regierungen, wollten davon nichts wissen. Natürlich haben sich die Banden danach auch außerhalb der Gefängnisse ausgebreitet, was Konsequenzen für die öffentliche Sicherheit hat. Will man also die Kriminalität allgemein bekämpfen, braucht man Lösungen für die Situation in den Gefängnissen. Das ist Teil des Problems und kann deshalb Teil der Lösung sein.

Resozialisierung ist in Brasilien kaum ein Thema. Stattdessen wünschen sich die meisten, dass die Banditen sich gegenseitig abschlachten. Wie kann man diese Mentalität ändern?

Kriminelle einfach zu töten, ist natürlich absurd. Leute, die so denken, stellen sich vor, dass nur arme Schwarze in den Favelas umkommen werden. Und nie der eigene Sohn aus gutem Haus. Aber wenn die Polizei einen Kleindealer tötet, hat das keinerlei Auswirkung auf den Drogenhandel. Er wird sofort ersetzt. Wenn die Menschen in den Favelas sehen, dass die Polizei gewalttätig vorgeht, wird die Bevölkerung nicht mehr mit der Polizei zusammenarbeiten. Aber es ist unmöglich, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, wenn die arme Bevölkerung sich gegen die Polizei stellt.

Interview: Thomas Milz

Das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt mit Spenden die Arbeit der Gefängnisseelsorge in Brasilien. Ihre Arbeit will die Situation in den Gefängnissen ändern, die Haftentlassungen und den Straferlass möglich machen und durch die Gemeinschaft friedlich Konflike lösen. Ein weiteres Ziel der Gefängnispastoral ist die Entkriminalisierung im Bereich der Drogenpolitik, die Bekämpfung der Folter sowie die Entmilitarisierung der Polizeieinheiten und der öffentlichen Verwaltung.

Mehr zur Arbeit der Gefängnispastoral lesen Sie im Interview mit Adveniat-Projektpartnerin Petra Pfaller.

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