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Chile |

Die Bildungsindustrie muss aufhören

Nicht der Geldbeutel der Eltern, sondern die Leistung der Kinder soll über das gesellschaftliche Weiterkommen entscheiden, sagt Dr. Tito Flores Caceres von der Universidad Tecnológica Metropolitana aus Santiago de Chile. Im Interview schildert er seine Sicht auf die seit über zwei Monate andauernden Proteste von Schülern und Studenten.

Blickpunkt Lateinamerika: Herr Dr. Flores Cáceres, warum sind die Studenten derzeit auf Chiles Straßen?

Dr. Flores Cáceres: Der wichtigste Slogan, den die Studenten auf den Straßen benutzen, fasst auf ziemlich klare Art und Weise die Gründe der Bewegung zusammen - „Sie wird fallen, sie wird fallen, die Bildung aus der Zeit Pinochets“. Das aktuelle Bildungssystem Chiles ist ein Resultat der vom Neoliberalismus beeinflussten Strukturreformen, die in Chile in den 80er Jahren unter der Militärdiktatur durchgeführt wurden. Diese Reformen führten zu einer wahren „Bildungsindustrie“, die nach Marktlogik funktioniert. Private Anbieter, die es vorher nicht gab, begannen „Bildungsdienstleistungen“ auf den verschiedenen Ebenen anzubieten: Grundschule, weiterführende Schulen, Universitäten. Gleichzeitig zog sich der Staat unter der Ausrede des Subsidiaritätsprinzips zurück, nach dem Motto: „Der öffentliche Sektor soll nichts tun, was nicht auch die Privaten tun können“.

Wie wirkt sich dieses Modell in der Praxis aus?

Heute kann man die Zukunft eines Jungen oder eines Mädchens mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Man muss nur wissen, welche Art von Schule das Kind besucht. Es gibt staatliche Schulen, Privatschulen mit staatlichen Subventionen und die echten Privatschulen. Diese Situation ist von Analysten und Studenten schon als „Bildungs-Apartheid“ bezeichnet worden. Mit anderen Worten: Je mehr Geld jemand in Chile hat, desto mehr Bildung kann er oder sie kaufen und desto besser ist die Zukunft der eigenen Kinder.

Der Staat wurde darauf reduziert, sich nur um die ganz armen Bevölkerungsgruppen zu kümmern. Pervers daran ist, dass sich nach und nach die Ansicht durchgesetzt hat, dass die Kinder, die auf die staatlichen Schulen gehen, aus „gescheiterten“ Familien kommen. Das heißt aus solchen, die sich nicht über den Markt in die Gesellschaft einfinden konnten. Und das ist Gift für den sozialen Zusammenhalt.

Wie sieht die Situation bei den Universitäten aus?

Die Privatisierungen haben zu einer Vervielfältigung des Angebotes an Universitäten geführt. Gleichzeitig hat die Qualität jedoch darunter gelitten. Viele Universitäten lehren fast nur noch, statt zu forschen, da die Forschung nur wenig Geld einbringt.

Dazu kommt das Problem, das sich viele Familien enorm verschulden müssen, um die Kosten für das Studium ihrer Kinder bezahlen zu können. Selbst die staatlichen Universitäten wurden in die Marktlogik einbezogen. Das heißt, sie sollen sich möglichst selbst finanzieren. Damit nehmen sie am Wettbewerb mit den Privaten teil.

Was muss aus Ihrer Sicht in Chile passieren?

Im Bildungsbereich ist eine größere Rolle des Staates notwendig. Er muss eine qualitativ hochwertige und vergleichbare Bildung für alle garantieren, sowohl im Schul- als auch im Universitätsbereich. Die Bildung muss wieder als öffentliches Gut behandelt werden und nicht als Geschäft. Der Staat muss soziale Rechte für alle garantieren.

Es muss die Leistung sein, die den individuellen Fortschritt bestimmt. Die Forderung nach besserer Bildung ist ein Ruf nach mehr Gleichheit in der chilenischen Gesellschaft, die heute eine der ungleichsten der Welt ist.

Die Studentenbewegung fordert ein Referendum über eine neue Verfassung. Glauben Sie, dass dies eine realistische Lösung ist?

Ja, ich glaube, das Referendum kann eine Alternative sein, um diesen Konflikt zu lösen. Es wird immer deutlicher, dass der rechtliche, geltende Rahmen den jetzigen Herausforderungen nicht mehr entspricht. Seine Legitimität wird so stark in Frage gestellt, dass wichtige Stimmen nicht nur eine Verfassungsreform fordern, sondern eine ganz neue Verfassung. Die heute gültige Verfassung hat ihre Wurzeln noch in der Diktatur.

In Europa hört man immer wieder von Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften. Was können Sie dazu sagen?

Die Studentenbewegung war in ihrem Kern bisher friedlich. Die Demonstrationen werden angemeldet und es herrscht eine gute Stimmung. Die Gewalt war punktuell und kam vor allem von kleinen Antisystem-Gruppen, die diese Zusammenstöße provozieren. Aber das sind Ausnahmen. Die Polizei hatte meist eine präventive Strategie. Trotzdem musste sie manchmal einschreiten. Dies hat sie in einigen Fällen auch mit übertriebener Härte getan, zum Teil sogar gegen Minderjährige.

In wieweit stellt die aktuelle Situation einen Test für die institutionelle Ordnung dar? Sehen Sie die Gefahr, dass es zu einer echten Krise kommt?

Es besteht kein Zweifel, dass diese Bewegung eine Feuerprobe für das demokratische System Chiles ist. Trotzdem sehe ich derzeit keine Gefahr für einen institutionellen Bruch. Auch wenn der Bürgermeister von Santiago erklärt hat, mit einem Einsatz der Streitkräfte auf den Straßen einverstanden zu sein und der Präsident das Gespenst des Putsches von 1973 an den Horizont gemalt hat, sind solche Aussagen eher in den anekdotischen Bereich zu verweisen. Die Opposition und auch Personen aus dem Regierungslager haben derartige Aussagen heruntergespielt und entschärft.

Aus meiner Sicht zeigen die Proteste eine gesunde Zivilgesellschaft, die um die öffentliche Sache besorgt ist. Das ist vielversprechend für das politische System in unserem Land. Die Herausforderung für die alten Eliten ist es, zu verstehen, dass diese hochmotivierte Bewegung darauf abzielt, jedem ein gesellschaftliches Fortkommen aufgrund seiner Leistung zu ermöglichen. Damit fordert sie nicht mehr, aber auch nicht weniger als Gerechtigkeit. Ist das etwa zu viel verlangt?

Dr. Tito Flores Cáceres ist Professor an der Fakultät für Soziale Arbeit der staatlichen Universidad Tecnológica Metropolitana in Santiago de Chile. Er hält einen Doktortitel in „Regierung und öffentlicher Verwaltung“. Seine Schwerpunkthemen sind öffentliche Verwaltung und Kommunikation. Zudem ist Flores Cáceres Direktor der Homepage www.politicapublica.cl.

Mit Dr. Tito Flores Cáceres sprach Sebastian Grundberger.

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