Der König von Araukanien und Patagonien
Der chilenische Präsident Manuel Montt dürfte nicht schlecht gestaunt haben, als er am 17. November 1860 folgendes Schreiben erhielt: „Wir, Orelie-Antoine I., von Gottes Gnade König von Araukanien, geben uns die Ehre, Sie über Unsere Thronbesteigung zu informieren.“
Heute vor 150 Jahren wählten Führer der Mapuche den französischen Anwalt und Abenteurer Orélie-Antoine de Tounens zum König von Araukanien. Und da dieser gerade in Fahrt war, verkündete er am 20. November gleich noch die Annektierung Patagoniens – fertig war das Königreich von Araukanien und Patagonien.
Eigene Verfassung
De Tounens hatte das Vertrauen der Mapuche dadurch erworben, dass er ihnen die Verteidigung gegen das militärische und wirtschaftliche Vordringen Chiles und Argentiniens versprach. Er arbeitete eine Verfassung aus und bildete eine Regierung, schuf eine Flagge und ließ Münzen prägen. Name seiner Nation: Nouvelle France.
Die Regierungen Chiles und Argentiniens ließen es jedoch an Respekt für den König vermissen und nahmen ihn wiederholt fest. 1862 wurde Tounens - eigentlich zu zehn Jahren Kerker verurteilt – nach Frankreich abgeschoben. Der französische Botschafter in Santiago de Chile war zunächst nicht durchgedrungen mit seinem Appell, der Landsmann sei nicht „Herr seiner Sinne“.
De Tounens verdingte sich in Frankreich als Laternenanzünder und starb 1878 im Alter von 53 Jahren in der Heimat. Nicht ohne zuvor mehrfach zu versuchen, doch noch seinen Thronanspruch in Südamerika durchzusetzen.
Unterwerfung Araukaniens
Die Lateinamerikanistin Jutta Müther schreibt in ihrer Dissertation über das kuriose Königreich, die Quelle von de Tounens Handeln sei Ehrgeiz gewesen, nicht der Wille, politische Veränderungen zu bewirken. Die schnell geweckte Begeisterung weniger Kaziken habe ihm genügt, um sie als Willen einer Nation zu interpretieren. Allerdings stieß der König insofern in ein Vakuum, als Chile vor großen Integrationsproblemen stand. Vom „Krönungsjahr“ 1860 bis 1883 durchdrang das chilenische Militär Araukanien. Der Staat wusste, dass eine friedliche Unterwerfung und Landabgabe von den Mapuche nicht zu erwarten war. Und das Problem schwelt bekanntlich weiter bis in unsere Tage.
Auch hatte Spanien nach der Unabhängigkeit Chiles im Jahr 1810 seinen Herrschaftsanspruch noch längst nicht aufgegeben: 1865 erklärte Chile der ehemaligen Kolonialmacht den Krieg, der bis 1871 dauerte.
Inwieweit de Tounens mit Unterstützung aus Frankreich handelte, bleibt umstritten. Tatsache ist aber, dass Chiles Regierung der Verdacht, Araukanien könnte sich in eine französische Kolonie verwandeln, nicht ungelegen kam, um die Unterwerfung des Gebietes zu rechtfertigen. Im Unabhängigkeitskrieg hatten die araukanischen Kaziken in ihrer Mehrheit die spanischen Truppen unterstützt. Die Araukaner galten seither als politisch unberechenbar.
Autor: Bernd Stößel