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Brasiliens Gefängnissen droht der Kollaps

Wachtturm und Außenmauer des staatlichen Gefängnisses am Stadtrand von Manaus. Foto: Adveniat/Pohl.
Wachtturm und Außenmauer des staatlichen Gefängnisses am Stadtrand von Manaus. Foto: Adveniat/Pohl.

Der jüngste Aufstand trug sich in der Anstalt Alcaçuz in der Nähe der Stadt Natal im brasilianischen Bundesstaat Rio do Grande Norte am Sonntag, 15. Januar 2017, zu. Bei dem Streit zwischen den beiden kriminellen Syndikaten "Primeiro Comando da Capital" (PCC) und "Syndicato do Crime" (Gewerkschaft des Verbrechens) wurden zwei Häftlinge verbrannt und 24 enthauptet.

Doch nur ein paar Stunden nach der Niederschlagung der Meuterei brachen am Montag erneut Unruhen aus. "Das Gefängnis steht Kopf", erklärte der stellvertretende Gefängnisdirektor von Alcaçuz, Juciélio Barbosa, gegenüber der brasilianischen Tageszeitung "Folha de São Paulo". "Die Gefangenen besetzen das Dach und haben die Flaggen ihrer Kommandos gehisst. Sie sind mit Brettern und Steinen bewaffnet."

134 Tote in 16 Tagen

Bereits am 6. Januar führte eine Meuterei in dem Gefängnis "Penitenciária Agrícola de Monte Cristo" im Bundesstaat Roraima an der Grenze zu Venezuela zu einem Massaker mit 33 Toten. Und am 1. Januar waren im Gefängnis von Manaus 56 Insassen umgekommen. Insgesamt forderten die Revolten laut Presseberichten seit Jahresbeginn 134 Todesopfer.

In den extrem überbelegten Gefängnissen Brasiliens kann die Aufsicht nach Einschätzung von Experten nur noch gewährleistet werden, wenn das staatliche Sicherheitspersonal mit den Verbrechersyndikaten zusammenarbeitet.

"Es gibt eine Art ungeschriebene Vereinbarung zwischen dem brasilianischen Staat und den kriminellen Vereinigungen", meint der ehemalige brasilianische Staatssekretär für Menschenrechte, Paulo Sérgio Pinheiro im DW-Gespräch. Die Regierung befürchte nun, dass auch in anderen Bundesländern Meutereien ausbrechen oder der Kampf um Reviere für Drogenhandel und Transportrouten auf offener Straße ausgefochten werden könnte.

Die Mafia sitzt mit am Tisch

Was in den Gefängnissen passiere, sei nur die Spitze des Eisbergs, meint Pinheiro, der mittlerweile Vorsitzender der UN-Kommission zu Menschenrechtsverletzungen in Syrien ist. "Es gibt eine allgemeine Straflosigkeit gegenüber kriminellen Organisationen", sagt er. Die sei eines der schlimmsten Vermächtnisse der Diktatur in Brasilien.

Brasilien gehört zu den Ländern mit den meisten Häftlingen weltweit. Die Zahl der Menschen hinter Gittern stieg nach Angaben des Nationalen Rates für Justiz (CNJ) von 80.000 Häftlingen im Jahr 1990 auf über 700.000 im Jahr 2015. Hinzu kommen noch 370.000 Freigänger. Zum Vergleich: In den USA sitzen 2,2 Millionen Menschen ein, in China sind es 1,6 Millionen.

Viele Untersuchungen, wenig Reformen

Der drohende Kollaps des brasilianischen Strafvollzugs ist nichts Neues. Bereits vier Parlamentarische Untersuchungskommissionen haben sich in den Jahren 1976, 1993, 2008 und 2015 mit den katastrophalen Zuständen in den Gefängnissen beschäftigt. Die Empfehlung war stets die gleiche: Es müssen mehr Gefängnisse her. Die Entwicklung von alternativen Strafen kam nur schleppend voran.

Vertreter der Gefängnisseelsorge der katholischen Kirche in Brasilien befürchten, dass auch dieses Mal eine echte Debatte über notwendige Reformen ausbleibt. "Das Hauptproblem ist die Masseninhaftierung", meint der Rechtsberater Paulo Cesar Malvezzi Filho. Die Bandenkämpfe seien nicht Ursache, sondern Folge der Überbelegung der Gefängnisse.

Den Strafvollzug entlasten würde nach Ansicht des Juristen nicht der Ausbau, sondern zum Beispiel eine Legalisierung des Drogenkonsums oder Handels. "Obwohl die 'Pastoral' eine Organisation der katholischen Kirche ist, setzen wir uns offen für eine Entkriminalisierung ein. Dies würde die Auslastung der Gefängnisse um 30 Prozent verringern", meint Malvezzi Filho. Doch leider gebe es in Brasilien zurzeit keine politische Kraft, die dafür eintrete.

Droht ein Bürgerkrieg?

Die Meutereien kommen für die brasilianische Regierung zu einem denkbar ungünstigen Augenblick. Denn angesichts der Rezession im Land will Brasiliens Präsident Michel Temer bei sozialen Programmen kürzen und eine feste Obergrenze für öffentliche Ausgaben festlegen. Einige Bundesländer, darunter auch Rio de Janeiro, haben sogar Schwierigkeiten, die Gehälter von Lehrern, Polizisten und anderen Bediensteten zu bezahlen.

Auch einer der bekanntesten Verbrecher in Brasilien, William da Silva Lima, der 30 Jahre lang hinter Gittern saß, ist überzeugt, dass sich an den katastrophalen Zuständen in brasilianischen Gefängnissen so schnell nichts ändern wird. 1991 veröffentlichte der Gefangene mit dem Spitznahmen "Professor" ein Buch über die Geschichte der kriminellen Vereinigung "Comando Vermelho" (CV), das später auch verfilmt wurde.

Kriminalisierung statt Resozialisierung

Seine Analyse: "Verbrecher gibt es in allen sozialen Schichten, doch in Brasilien sitzen im Gefängnis nur die Armen ein", schreibt er. "Dies erklärt, warum es so schwierig ist, den Strafvollzug zu reformieren." Silva Lima prophezeit, dass Brasilien ein offener oder verdeckter Bürgerkrieg drohe, wenn es für marginalisierte Jugendliche keine Alternativen gebe.

"Eins ist sicher: Eingeschlossen in einer überbelegten Zelle, wird niemand resozialisiert. Statt Häftlingen eine Berufsausbildung zu vermitteln, bringen unsere Gefängnisse immer neue Verbrecher hervor. Sie tragen dazu bei, dass die Gesellschaft immer tiefer in der Kriminalität versinkt", so Silva Lima. Seine Bilanz: "Traurig ist das Schicksal eines Systems, das immer notwendiger wird, je mehr es vom Kollaps bedroht ist."

Quelle: Deutsche Welle, Autorin: Astrid Prange unter Mitarbeit von Malu Delgado und Karina Gomes.

Das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt mit Spenden die Arbeit der Gefängnisseelsorge in Brasilien. Ihre Arbeit will die Situation in den Gefängnissen ändern, die Haftentlassungen und den Straferlass möglich machen und durch die Gemeinschaft friedlich Konflike lösen. Ein weiteres Ziel der Gefängnispastoral ist die Entkriminalisierung im Bereich der Drogenpolitik, die Bekämpfung der Folter sowie die Entmilitarisierung der Polizeieinheiten und der öffentlichen Verwaltung.

Mehr zur Arbeit der Gefängnispastoral lesen Sie im Interview mit Adveniat-Projektpartnerin Petra Pfaller.

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