Wenn die Überweisung zum Überleben fehlt
Millionen von Familien in Lateinamerika sind auf Geld angewiesen, das ihnen Angehöre aus dem Ausland schicken. Wegen Corona bleiben die Überweisungen oft aus. Den Staaten fehlen deshalb Devisen, den Menschen das Einkommen.
Eloísa Sánchez sitzt in ihrer Wohnung in Ciudad Azteca am Rande von Mexiko-Stadt und wartet auf die erlösende Nachricht. Ihr Sohn Carlos lebt seit 18 Jahren als Migrant ohne Aufenthaltserlaubnis im fernen Chicago und schickt seither beinahe jeden Monat Geld an die Mutter daheim. Immer, wenn er die 300 Dollar aufgegeben hat, tippt er ins Mobiltelefon: „Mama, Du kannst losgehen und das Geld holen“.
„Das war zuletzt im April so“, erzählt die 63-Jährige. Also ging sie zum nächstgelegenen Büro eines Finanzdienstleisters und holte die 7000 Pesos, umgerechnet rund 270 Euro, ab. In normalen Zeiten macht das Geld Sánchez das Leben angenehmer, sie bezahlt damit den Arzt oder gönnt sich einen kleinen Luxus. Aber meistens legt sie etwas davon für später beiseite, denn in ihrem Job als Haushaltshilfe ist sie ohne soziale Absicherung.
Aber in Zeiten der Pandemie ist das Geld vom Sohn kein Zuschuss mehr für ein leichteres Leben, sondern schlicht überlebensnotwendig. Denn Sánchez ist seit Mitte März ohne Einkommen, aber auch ihr Sohn hat in Chicago seine Anstellung in der Küche eines Restaurants verloren. Eine klassische „Lose-Lose-Situation“ in Corona-Zeiten, die Millionen Migranten-Familien trifft.
Migranten verlieren wegen Corona als Erste ihren Job
Geschichten wie diese hört man in diesen verwirrenden Wochen überall in Mexiko. Vor allem in Bundesstaaten wie Oaxaca, Michoacán, Puebla oder Zacatecas, wo ganze Dörfer nur noch aus Frauen bestehen, weil die Männer in den Norden gewandert sind, steigt die Panik. Denn oft lebt mehr als die Hälfte der Familien von den „Remesas", den Auslandsüberweisungen der Migranten, die fast ausnahmslos in den Vereinigten Staaten arbeiten. Nach Angaben des Washingtoner „Pew Research Center“ leben 10,5 Millionen lateinamerikanische Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis in den USA, 80 Prozent von ihnen stammen aus Mexiko und Zentralamerika.
Und sie gehören zu denen, die als erste in der Krise ihren Job verloren haben. Sechs von zehn Migranten seien seit Beginn der Coronakrise gekündigt worden oder ohne Bezahlung freigestellt, ermittelte das „Pew Research Center“. Denn die Menschen seien traditionell in den Wirtschaftssektoren beschäftigt, die besonders hart von der Corona-Krise betroffen sind: Gastronomie, Tourismus, Landwirtschaft und der Dienstleistungssektor, sagt Experte Manuel Orozco vom „Interamerican Dialogue“, einem auf Lateinamerika spezialisierten Thinktank.
In der Folge werden die Remesas in Lateinamerika dieses Jahr dramatisch zurückgehen. Eric Parrado, Chefökonom bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB), prognostiziert einen Einbruch um rund ein Drittel. Die Region bekam vergangenes Jahr 103 Milliarden Dollar an Auslandsüberweisungen. „Das heißt der Verlust für dieses Jahr beläuft such auf rund 30 Milliarden Dollar“, rechnet Parrado vor. Das entspricht ungefähr dem, was die Migranten aus Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Ecuador und Peru zusammengenommen 2019 nach Hause geschickt haben.
"Lebende Helden" im Ausland
Als Konsequenz wird die Armut in den Staaten der Region steigen. Allein nach Mexiko überwiesen die Angehörigen im vergangenen Jahr die Rekordsumme von 34 Milliarden Dollar. Geld, das bei den Familien so manche Not lindert. Denn die Remesas übernehmen auch eine Funktion, die eigentlich dem Staat obläge. Sie spinnen ein dünnes und wie man jetzt sieht sehr fragiles soziales Netz für die bedürftigsten Teile der Bevölkerung. Auch deshalb bezeichnete Präsident Andrés Manuel López Obrador die Migranten in den USA kürzlich als „lebende Helden“, weil sie trotz Corona versuchten, ihre Angehörigen weiter zu unterstützen.
In Mexiko gehören die Überweisungen mit den Einnahmen aus dem Tourismus, den Ölverkäufen und den Exporterlösen des Manufaktursektors zu den wichtigsten Devisenquellen des Landes. Sie machen in der zweitgrößten Volkswirtschaft aber insgesamt nur drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. In Zentralamerika stützen die Remesas hingegen ganze Volkswirtschaften. In Guatemala machten sie vergangenes Jahr gut 13 Prozent des BIPs aus, in El Salvador 21 Prozent und in Honduras rund 22 Prozent. Im karibischen Armenhaus Haiti seien es gar 37 Prozent, sagt Eric Parrado von der Interamerikanischen Entwicklungsbank.
In diesen Ländern müssten die Regierungen versuchen, die Ökonomien mit Konjunkturprogrammen zu stützen, sagen die Experten. Das ist aber in Corona-Zeiten, in denen auch der Tourismus und die Weltmarktpreise für Agrargüter wie Kaffee und Früchte einbrechen, praktisch unmöglich.
Venezolanische Migranten besonders betroffen
Besonders dramatisch sei die Situation für die Venezolaner, merkt Manuel Orozco vom „Interamerican Dialogue“ an. Die Menschen in dem Land hätten schon vor Corona unter einer schweren Versorgungskrise gelitten. Und nur die Hilfen der fünf Millionen Angehörigen, die zumeist in Kolumbien, Chile, Peru und Ecuador leben, hätten manche Familien vor dem Hungertod bewahrt. „Aber die venezolanischen Migranten stecken wegen Corona in den Aufnahmeländern selbst in so großen Problemen, dass sie sich kaum ernähren können“, warnt Orozco. „Da bleibt fast nichts für die Angehörigen“.
Ganz so schlimm ist es bei Eloísa Sánchez in Mexiko-Stadt noch nicht. Ihr Sohn hat gerade das ersehnte SMS gesendet: „Mama, Du kannst losgehen und das Geld holen“. Es sind zwar nur noch 150 Dollar. Aber immerhin.