Venezolaner rutschen in die Sklaverei ab
Daheim waren sie Ingenieure, Mechaniker, Ölarbeiter beim staatlichen Ölkonzern PDVSA, Näher und Lehrer. Doch vor der immer aussichtsloser werdenden Wirtschaftskrise und der politischen Unfreiheit in Venezuela sind sie über die grüne Grenze ins Land des südlichen Nachbarn Brasilien geflohen. Doch auch hier geht es der Wirtschaft schlecht; Arbeitsplätze für die venezolanischen Flüchtlinge sind rar.
Immer öfter berichten brasilianische Medien derzeit über Venezolaner, die diese Not in sklavenähnliche Situationen drängt. Zwölf „Venecos“, wie die Flüchtlinge abfällig in Nordbrasilien bezeichnet werden, wurden in den letzten Wochen von den Behörden aus menschenverachtenden Arbeitsbedingungen befreit. Sie waren auf den Straßen von Boa Vista, der Hauptstadt des nördlichsten Gliedstaates Roraima, angeworben worden.
Man versprach ihnen Arbeit auf einer Farm im Landesinnern, 600 R$, rund 130 Euro, sollten sie als Monatslohn erhalten. Doch auf dem entlegenen Landgut angekommen, mussten sie fast ihren kompletten Lohn für den Schlafplatz in einem Holzverschlag mit Erdboden und für ihr Essen abgeben. Die hygienischen Zustände waren katastrophal. Über Arbeitspapiere verfügte ebenfalls niemand. Noch nicht einmal eine Aufenthaltsgenehmigung als Flüchtlinge hatten die Venezolaner, als sie ein mobiler Einsatztrupp des Arbeitsministeriums auf der Farm entdeckte.
Hohe Dunkelziffer erwartet
Die nun bekannt gewordenen Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs. Das brasilianische Arbeitsministerium will seine mobilen Einsatztrupps nun auf das Landesinnere Roraimas konzentrieren, wo viele weitere ähnliche Fälle vermutet werden. Einen genauen Überblick über die Zahl der Venezolaner und ihre Situation hat die Regierung derzeit jedoch nicht. Auch die katholische Landpastoral, die an der Spitze des Kampfes gegen Sklaverei steht, führt derzeit erst noch eine Studie zur Situation durch.
Vermutlich rund 80.000 Venezolaner sind bisher nach Brasilien geflohen, bis zu 60.000 Flüchtlinge sollen sich alleine in Roraima aufhalten. Rund 25.000 von ihnen sind derzeit in der Hauptstadt Boa Vista untergebracht. Die Unterkünfte, die von den Behörden zur Verfügung gestellt wurden, sind komplett überbelegt, so dass Tausende Venezolaner in Parks, auf Plätzen und unter Brücken ihre improvisierten Zelte aufgeschlagen haben.
Die meisten waren in dem Glauben gekommen, in Brasilien einen Job zu finden. Doch den wenigsten ist das geglückt, zwei Drittel gelten offiziell als arbeitslos. So verkaufen Flüchtlingskinder an den Ampeln der Stadt Süßigkeiten und Obst. Manche haben sich Schilder um den Hals gehängt: „Preciso de trabalho - ich brauche Arbeit“.
Viele Jugendliche rutschen ab
Während ihre Eltern von Haus zu Haus ziehen, um ihre Arbeitskraft anzubieten, sind junge Mädchen in die Prostitution abgerutscht. Mehrere Mädchen verschwanden bereits spurlos. Andere Jugendliche sollen sich Drogenbanden und anderen kriminellen Vereinigungen angeschlossen haben, berichten Lokalmedien. In der brasilianischen Bevölkerung wächst deswegen das Misstrauen gegenüber den Geflüchteten.
Während die Behörden im Landesinnern ihre Aktionen verschärfen, gibt es in Boa Vista selbst kaum Kontrollen. Hier lassen sich die Venezolaner für einen Tageslohn von wenigen Euro anwerben. Oft werden sie nach verrichteter Arbeit jedoch selbst um dieses Geld geprellt. Eine Anlaufstelle, um sich zu beschweren, haben sie nicht. Aus Angst vor den brasilianischen Behörden haben viele Venezolaner bisher noch keine Aufenthaltsgenehmigungen beantragt.
Jeden Tag kommen über 400 Geflüchtete
Um die angespannte Situation in Roraima zu entschärfen, wurden in den letzten Wochen fünfhundert Flüchtlinge ausgeflogen, die meisten in die Amazonas-Metropole Manaus und in die südliche Millionenstadt São Paulo. Ein Tropfen auf den heißen Stein, kommen doch immer noch täglich über 400 neue Flüchtlinge in Nordbrasilien an.
Jeden Monat steige die Zahl der obdachlosen Venezolaner auf den Straßen Boa Vistas deshalb um 500 an, schätzt die Regierung des Teilstaates. Es drohe eine „Favelisierung“ der Stadt nach dem Vorbild Rio de Janeiros. So hatte die Landesregierung beim Obersten Gericht beantragt, die Grenze nach Venezuela komplett zu schließen. Allerdings lehnt die Zentralregierung in Brasília dies strikt ab. Man arbeite stattdessen an einem Plan, die Flüchtlinge auf Großstädte in ganz Brasilien zu verteilen. Ob sie dort eine Chance auf Arbeit haben, steht jedoch in den Sternen.
Autor: Thomas Milz