Trump und die Dreamer - Lebensplanung stark gefährdet
Nicolle Uria hat die Rede Donald Trumps mit gespitzten Ohren verfolgt - wie 50 andere "Dreamer", die als Gäste der Demokraten zuhörten, wie Trump in salbungsvollen Worten dafür warb, eine überparteiliche Lösung für das Schicksal der als Kinder in die USA gekommenen Einwanderer zu finden.
Die Schülerin aus Virginia wundert sich, warum der Präsident ihr das Leben so schwer macht, wenn ihm die "Dreamer" angeblich so am Herzen liegen. Oder warum der republikanische Abgeordnete Paul A. Gosar vor der Rede verlangt hatte, die Polizei im Kongress möge die Papiere aller Personen überprüfen, die Einlass begehrten.
Familie aus Bolivien
Ohne Einigung zwischen Präsident und Kongress könnte Nicolle den Logenplatz im Kapitol schon sehr bald gegen die Rückbank eines Einsatzfahrzeugs der Einwanderungspolizei ICE eintauschen müssen. Die heute 17-Jährige war ein Säugling, als ihre Eltern sie aus Bolivien in die USA brachten. Wo ihre Wiege stand, sieht man der jungen Frau an. Alles andere an ihr ist so US-amerikanisch, wie es nur geht.
Nicolle hat sehr konkrete Zukunftspläne. Nach der Annandale Highschool im Fairfax County in Virginia möchte sie Journalismus oder Ökonomie studieren, um später in einem Medienunternehmen zu arbeiten. Doch diese Lebensplanung ist gefährdet. Denn der Mann, der am Dienstag (Ortszeit) zur Lage der Nation spricht, hat ihre Situation am 5. September vergangenen Jahres dramatisch verändert.
An diesem Tag kreuzte die große Politik ihr kleines privates Leben. Der US-Präsident kündigte entgegen aller vorherigen Zusicherungen das DACA-Programm auf, mit dem Amtsvorgänger Barack Obama per Dekret 2012 den als Kindern von Eltern ohne gültige Papiere in die USA gebrachten Einwanderern den Aufenthalt erlaubte.
"Dreamer" haben beste Beschäftigungsstatistiken
Das DACA-Programm ermöglichte den jungen Menschen den Schulbesuch, gab ihnen eine Sozialversicherungsnummer, die Erlaubnis zu arbeiten und vor allem Schutz vor Abschiebung. Die Betroffenen zahlten es dem Staat mit überdurchschnittlichen schulischen Leistungen und besten Beschäftigungsstatistiken zurück.
Als Justizminister Jeff Sessions am 5. September das Ende von DACA bekannt gab, waren Nicolles Eltern in Panik. Sofort schrieb die Mutter eine SMS, fragte, wo sie sei. Sie möge sofort nach Haue kommen. Seitdem herrscht Angst im Hause Uria.
Da sie ihren Statuts erst im September 2016 erhielt, kann Trumps DACA-Annulierung für Nicolle schon sehr bald das Ende ihrer Träume bedeuten. Ohne den Kongress droht dem Mädchen im kommenden September die Abschiebung nach Bolivien, ein Land, in dem sie nur ihr erstes Lebensjahr verbracht hat.
Was der Teenagerin gerade widerfährt, ruft traumatische Erinnerungen wach. Etwa an die Klassenfahrt nach Frankreich, deren Teilnahme ihre Eltern der 13-Jährigen scheinbar grundlos verboten hatten. Tatsächlich konnte Nicolle nicht reisen, weil sie keinen Pass hatte.
Eine Vorzeigeschülerin
Als sie später erfuhr, "undokumentiert" zu sein, brach das Mädchen in Tränen aus. "Bin ich keine richtige Amerikanerin", fragte sich Nicolle. Dabei lebt sie ganz ähnlich wie alle anderen US-Teenager. Sie ist eine ehrgeizige Volleyballspielerin, sammelt Spenden für die Hurrikan-Opfer, ist Präsidentin des Hispanic Leadership Club der Schule, Pfadfinderin und Redakteurin der Schülerzeitung.
Übrige Familie darf bleiben
Seit ihre Eltern und die beiden älteren Schwestern vor Jahren Aufenthaltsgenehmigungen erhielten, ist sie die einzige in der Familie ohne dauerhaftes Bleiberecht. Ihr Schicksal hängt am Ausgang eines Politik-Pokers, den sie als zynisch empfindet: ihre Zukunft gegen den Bau einer Mauer an der Südgrenze zu Mexiko. Nicht nur deshalb kann sie den Worten des Präsidenten nicht glauben.
Der Präsident hatte aus ihrer Sicht schon in der Vergangenheit sein Wort gegenüber den überdurchschnittlich gut ausgebildeten "Dreamern" gebrochen. Nicolle erinnert sich an die Versprechen, die der Präsident ablegt hatte, als er das DACA-Dekret kippte. "Macht euch keine Sorgen", twittere Trump damals. Wenige Tage vor Ablauf der Einigungsfrist empfindet sie in der Ehrenloge der Demokraten genau das: Angst vor einer ungewissen Zukunft.
Autor: Bernd Tenhage / KNA