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Venezuela |

"Nacht in Caracas" erzählt vom Untergang Venezuelas

Im August erscheint das Erstlingswerk "La Hija de la Española" der venezolanischen Autorin Karina Sainz Borgo im Fischerverlag. Der Roman mit dem deutschen Titel "Nacht in Caracas" erzählt vom Schicksal einer jungen Frau und dem Untergang Venezuelas. Sainz Borgo wurde 1982 in Caracas geboren und lebt seit 2006 in Madrid. Sie schreibt für verschiedene spanische und lateinamerikanische Zeitungen und Blogs.

Die Journalistin Karina Sainz Borgo hat den Niedergang ihrer Heimat Venezuela in einem Roman verarbeitet. Foto: Lisbeth Salas

Blickpunkt Lateinamerika: Was war der Moment, in dem die journalistische Arbeit zu literarischer Arbeit geworden ist?

Karina Sainz Borgo: Sie haben sich nie wirklich unterschieden. Ich arbeite als Kulturjournalistin, seit ich 17, 18 bin. In Caracas habe ich auch viel politischen Journalismus gemacht, soziale Arbeit, mich interessierte die Straße. Ich bin in einem sehr komplexen Land geboren. Es ist sehr schwierig, in einer so gewalttätigen Stadt wie Caracas nur Sonette zu schreiben. Als ich 2006 nach Spanien kam, war ich 23 und habe erste Versuche unternommen, einen Roman über Wurzeln und Entwurzelung zu schreiben. Aber erst, nachdem ich viel gelesen - Autoren wie J. M. Coetzee und Thomas Bernhard - und stark mit mir gerungen hatte, setzte ich mich hin und schrieb "Nacht in Caracas". Das war mein dritter Versuch, und plötzlich gehorchten mir die Wörter. Auch wenn die Geschichte in Caracas spielt, hat sie universalen Charakter. 

Also ist der entscheidende Impuls von außen gekommen?

In meiner persönlichen Entwicklung habe ich viele Male versucht, darüber zu schreiben, wie meine Entwurzelung mich beeinflusst. Nicht, weil ich mich in Spanien entwurzelt fühlen würde, sondern, weil ich mich von meinem eigenen Land entwurzelt fühle. Es sollte nicht autobiografisch sein, aber inspiriert vom gesellschaftlichen und politischen Verlust. Wenn bei der Romanfigur Adelaida Falcón die Mutter stirbt, stirbt für mich mein Land. Das ist der Zündstoff, der Antrieb dieses Buches. 

Das internationale Interesse an Venezuela ist in den letzten zwei Jahren besonders gewachsen. Aber der Niedergang des Landes, die persönlichen Dramen haben schon lange vorher begonnen.

Tatsächlich habe ich 2017 angefangen, "Nacht in Caracas" zu schreiben. Es war ein externer Impuls, aber es war kein neuer. Ich bin immer wieder zum gleichen Thema zurückgekehrt. Es gibt Themen, die mit unserer Geschichte als Land zu tun haben, die ich verinnerlicht habe -  der Verlust, der Tod, die Erinnerung - und von denen ich wollte, dass der Roman sie auf eine  Art und Weise zusammenbringt, dass ein spanischer, italienischer, portugiesischer Einwanderer der 1940er, 50er Jahre darin etwas wiedererkennt. Dabei wirkt es widersprüchlich, dass der Niedergang ein Land betrifft, das reich zu sein schien. Es ist die Geschichte eines Todes, des großen venezolanischen Todes...

Man kann jemandem seine Heimat wegnehmen, aber die Kindheitserinnerungen bleiben.

Du kannst sagen: Ich behalte meine Erinnerungen. Aber wenn Du sie in der Realität suchst, hören sie auf zu existieren. Ich bin seit 13 Jahren in Europa. Jedes Mal, wenn ich nach Lateinamerika reise, erkenne ich das Licht, die Gerüche. Aber würde ich nach Venezuela zurückkehren, gäbe es das Land nicht mehr. Ich reise nicht mehr dorthin, weil weder das Land mich erkannt hat noch ich das Land erkannt habe. Das ist auch eine persönliche Tragödie. "Nacht in Caracas" erzählt von diesem Gefühl verbrannter Erde. Viele Leute erleben diese Tragödie, und sie spielt sich weiter ab. Im Roman muss Adelaida Falcón alles hinter sich lassen, um gehen zu können; aufhören, sich so zu nennen, wie sie heißt; Kleidung von jemandem anderen tragen, die Erinnerungen von jemandem anderen stehlen.

Ihre Familie und Freunde sind noch in Venezuela.

Meiner Familie, meinen Freunden, den Schriftstellern, deren Bücher ich gerne gelesen habe -  allen geht es sehr schlecht, sowohl innerhalb des Landes als auch außerhalb, weil sie nicht genug zu essen und keine Medikamente haben. Und weil sie zum Beispiel nicht mehr als Professor arbeiten, sondern Brot verkaufen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber um zu gehen, muss man aufhören, der zu sein, der man war. Und diejenigen, die bleiben, leben in ständiger Angst. Da werden Individuen ausradiert. Allen Gesellschaften, die sich totalitären Prozessen unterwerfen, ergeht es so.

Lautet der letzte Satz deshalb auch "In Caracas wird immer Nacht sein"?  

Die ganze Familie meines Vaters waren politische Flüchtlinge, die in den 1940er Jahren nach Venezuela kamen. Sie haben nie zurückgeblickt, sind Venezolaner geworden, so wie ich immer mehr Spanierin werde. Das ist wie ein nachträgliches Geschenk, das sie mir gelassen haben, dass ich wenigstens einen Ort habe, an dem ich mich nicht so weit weg fühle. Als ich 2012, 2013 zum letzten Mal in Venezuela war, fand ich es schrecklich, weil alles leer war. Alle waren gegangen. Der einzige Ort, an dem es Leute gab, war das Leichenhaus. Nach 17.00 Uhr ist niemand mehr aus dem Haus gegangen. Der Preis, den diejenigen zahlen, die geblieben sind und freiwillig Widerstand leisten, ist sehr hoch. Sie erfinden sich immer wieder neu, passen ihren Platz der Welt immer wieder neu an. Dieser Platz wird jedes Mal kleiner und dunkler.

Interview: Martina Farmbauer

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