Mit farbenfrohen Textilien gegen das Grau des Alltags

Was tun, wenn die Grundlage für den Lebensunterhalt wegbricht? Wenn eine Dienstleistung, die jahrelang für ein bescheidenes, aber sicheres Auskommen gesorgt hat, nicht mehr nachgefragt wird?

Der Schneider Herr Flores, ein einfacher, gütiger Mann aus Minas Gerais in Brasilien, ist ratlos. Seit Ewigkeiten hat er die grauen Kittel genäht oder geflickt, in denen die Arbeiter in die Fabrik auf der anderen Seite des Flusses gehen. Doch plötzlich kommen die Arbeitskittel in großen Paketen aus Übersee. Irgendjemand anderes näht dort für einen Spottlohn. Der Schneider vor Ort verliert den Auftrag. Und wenn die Bekleidung kaputt geht, wird sie gar nicht mehr ausgebessert, sondern gleich weggeworfen.

"Onkel Flores" ist der Titel eines Kinderbuchs der in Belo Horizonte geborenen, mittlerweile aber in Deutschland lebenden Autorin Eymard Toledo. Sie erzählt darin die universelle Geschichte vom Schicksal eines Handwerkers, wie es viele Menschen in Lateinamerikas und auch im globalen Norden erfahren haben. Doch weil es ausdrücklich eine Story für Kinder ist, enthält das Buch nicht nur viele wunderbare Bilder und lehrreiches Material, sondern auch einen optimistischen - vielleicht kann man sagen - "brasilianischen" Ausblick.

Ein schlauer Junge hört genau zu und denkt nach

Flores' Neffe Edinho ist Zeuge der Jobkrise seines Onkels. Er verbringt gerne ganze Nachmittage in der Schneiderwerkstatt, unterstützt den Onkel mit kleinen Tätigkeiten und lauscht dabei den unzähligen Geschichten "von früher". Früher, als der Fluss noch nicht von den Abwässern aus der Fabrik verunreinigt war, so dass die Frauen des Dorfes noch die Wäsche darin wuschen. Früher, als noch so viele Fische im Fluss schwammen, dass die Männer sie in prall gefüllten Netzen einholten. Früher, als es die Fabrik auf der anderen Flussseite noch nicht gab, aus deren Schornsteinen feiner, grauer Staub entweicht, welcher den Alltag verändert und die Gesundheit der Menschen angegriffen hat. Edinho denkt lange und gründlich nach, wie er seinem Onkel in der Not helfen kann und wie sich das Leben für alle wieder verbessern lässt.

Eymard Toledo entwirft mit einfachen, klaren Worten und ansprechenden Bildern ein klassisches Dilemma: Einerseits erhalten viele Bewohner durch die Ansiedlung der Fabrik - wahrscheinlich ist es ein Minenunternehmen oder ein Produktionsort für metallische Werkstoffe, wie sie in Minas Gerais zu Hunderten existieren - die Chance auf ein regelmäßiges Einkommen. Andererseits verlieren viele ihre angestammte Erwerbsmöglichkeit, während die einstmals intakte Umwelt zerstört wird.

Dem Grau der Welt etwas entgegensetzen

Onkel Flores und Edinho könnten als Fallbeispiel einer Sozialstudie herhalten. Doch weil sie Helden eines Buches für (kleine wie große) Kinder sind, entwickelt der Junge eine Idee, die zu einer nachhaltigen Veränderung führt: Onkel Flores soll farbenfrohe Kleider herstellen, in denen die Menschen dem zunehmenden Grau ihrer Umwelt etwas entgegensetzen können. So appelliert Edinho an das handwerkliche Talent des Onkels und vertraut auf die große Lebensfreude seiner Nachbarn und Bekannten.

"Und auch das ist typisch für das Leben in Brasilien", formuliert die Autorin in ihrem Nachwort. "Die Menschen müssen von klein auf lernen, Lösungen für Probleme zu finden. Sie leben in einem Land, das in ständiger Veränderung ist, in dem alles provisorisch ist und es gute Ideen braucht, um zu überleben."

Großer Mix aus Formen, Farben und Materialien

Zur Illustration nutzt Eymard Toledo einen faszinierenden gestalterischen Kniff: Ihre Bilder sind nicht gemalt oder gezeichnet; sie bestehen vielmehr aus einem Mix aus einzelnen ausgeschnittenen Figuren, Gegenständen und Hintergrundelementen, die zusammen auf eine Fläche gelegt werden. Die dargestellten Figuren tragen Hosen, Hemden, T-Shirts etc. aus echtem Stoff. Gardinen, Bilder an den Wänden, Haushaltsgegenstände, selbst Dinge, die in einem öffentlichen Park zu finden sind, und sogar die Wasserpflanzen am Flussufer sind aus separaten Materialien hergestellt.

Unterschiedliche Elemente erscheinen also neben- bzw. übereinander. Einzeln betrachtet sind sie eindimensional - wie könnte es im Medium Buch auch anders sein? In der Summe entsteht allerdings der Effekt einer gewissen Erhabenheit von Figuren und wichtigen, aussagekräftigen Elementen, die im Vordergrund des jeweiligen Bildes stehen. Und nicht nur das: Die Tatsache, dass die Autorin mit zahlreichen, häufig textilen Materialien arbeitet, betont das Motiv des Schneiderhandwerks und Edinhos Geniestreich, aus bunten Stoffbahnen etwas Neues, Farbenfrohes und letzten Endes auch Lebensbejahendes herzustellen. So singt Eymard Toledo nicht nur ein Loblied auf den brasilianischen Einfallsreichtum, sondern auch auf das große Potenzial, das in allem steckt, was mit den eigenen Händen gestaltet, genäht, gewebt, gestrickt und gepatchworkt wird.

Autor: Thomas Völkner

Eymard Toledo: Onkel Flores
Basel: Baobab Books 2016
ISBN 978-3-905804-72-0
32 Seiten 17,90 Euro