Bischöfliche Aktion Adveniat e.V.
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"Gott in Haiti - im Erdbeben"

„Gott in Haiti – im Erdbeben“

Dieser Beitrag von Michael Huhn erschien in leicht gekürzter Version in „Bilder der Gegenwart“ (2010/23).

„Gott hat unser Leben bewahrt, ich weiß nicht, warum.“ Mit dieser knappen Zeile, diesem einen, einzigen Satz antwortete der Sekretär der haitianischen Bischofskonferenz, P. Dr. Han’s Alexandre, der Haiti-Referentin bei Adveniat, Margit Wichelmann, nachdem sie am 14. Januar 2010, zwei Tage nach dem Erdbeben, in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen per E-Mail alle Projektpartner angeschrieben hatte. Einer von ihnen, P. Max Delamour, antwortete mit seinem Dank an den Herrgott, der noch Schlimmeres verhindert habe: Das Beben habe sich genau in der Stunde am Nachmittag ereignet, als die Kinder ihre Schulen schon verlassen hatten, aber die meisten noch auf der Straße, auf dem Heimweg waren. Das sei Gottes Hand gewesen.

„Gott hat unser Leben bewahrt, ich weiß nicht, warum.“ In diesen wenigen Worten schwingt alles mit: die Wortlosigkeit angesichts der Katastrophe, die staunende Dankbarkeit über die eigene Rettung und die unabweisbare Frage des „Warum?“. Diese Frage wird weder durch den Versuch einer Antwort entschärft, noch Gott entgegengehalten. Die Frage wird vielmehr bei Gott aufgehoben: „aufgehoben“ nicht im Sinne von „erledigt“, sondern im Sinne von „bei Gott bewahrt“.

Der Trost des Gottvertrauens

Am 12. Januar 2010 und in den Tagen danach war alles fassungslose Verstörtheit. Jetzt, gut vier Monate später, ist die Verstörtheit nicht überwunden, sondern eher tiefer gesunken: Die Nöte des Alltags haben sich darübergelegt. So wie es anfangs keine (oder kaum) Worte gab, so braucht die Verstörtheit nun gerade das Aussprechen. Fast immer nimmt dieses Sprechenmüssen der Überlebenden seinen Ausgang beim Wort „Gott“, sei es als Dank für die eigene Rettung oder die anderer, sei es als Klage über umgekommene und vermisste Angehörige und Freunde, sei es im scheinbar abrupten Wechsel von Dank und Klage, von Klage und Dank. Es ist, als ob das Wort „Gott“ es überhaupt erst ermöglicht, wieder zum Sprechen zu finden, wieder ins Leben zurückzufinden.

Vor den Schutthaufen ihrer Häuser und Hütten schrien die Menschen Gott ihre Verzweiflung heraus. Über ein geborgenes Heiligenbild gebeugt, entlud sich der Schmerz. Vor und in den Trümmern ihrer Kirchen und Kapellen kommen sie zusammen, um für die Verstorbenen zu beten. In ehrfürchtiger Scheu berühren sie das stehen gebliebene Kreuz vor den Ruinen der Pfarrkirche Sacré-Cœur im Stadtteil Turgeau von Port-au-Prince.

Ausländische Journalisten, die anlässlich des Erdbebens erstmals ins Land kamen, verwunderten sich über das, was sie für einen „Ausbruch an Religiosität“ hielten. Sie ließen ihre Zuschauer und Leser wissen, wie sehr Haiti „religiös geprägt“ sei. „religiös geprägt“? Weit gefehlt! Viel, viel mehr: Dieses Land ist mit Frömmigkeit geradezu durchtränkt. Das Leben der Haitianer ist vom Glauben ganz und gar durchdrungen. „Ein Tag ohne Gebet ist ein verlorener Tag“, sagte mir eine Haitianerin. „Wenn du frühmorgens nicht mit dem Gebet beginnst, kannst du gleich den ganzen Tag liegen bleiben. Was willst du von einem Tag ohne Gebet schon erwarten? Wer betet, der handelt!“ Kaum ein Alltagshandeln, für das nicht Gottes Segen oder der Beistand der Heiligen angerufen wird. „Bondye“ (von französisch Bon Dieu, Guter Gott) und „Jezi“ (Jesus) sind die Leitwörter der haitianischen Kultur. Kein anderes Wort ist ähnlich oft zu hören und im Straßenbild zu lesen, auch auf den Tap-taps, den buntbemalten Kleinbussen.

„Die Freude an Gott ist unsere Stärke“, so wandte der Pfarrer einen Satz des Propheten Nehemia (Neh 8,10) auf seine Gemeinde und sich selbst an: „Meinen Sie denn, wir könnten dem Allerhöchsten etwas Schöneres darbringen als unsere Freude?“ Ich hatte im Dorf Saint-Roch in den Bergen südwestlich der Hauptstadt die hl. Messe mitgefeiert. Alle, auch die, die sonst nur Lumpen tragen, waren im Sonntagskleid, für die meisten ihr einziges, gekommen: Für Gott nur das beste! In der festlichen Fröhlichkeit des Gottesdienstes kam mir eine Zeile aus dem Gedicht „Heimkunft“ von Friedrich Hölderlin in den Sinn: „Ihn zu fassen ist fast unsere Freude zu klein.“ Doch dies zu lesen ist eins, es zu erleben ein anderes. Hierzulande kennen wir die Innigkeit der Gotteserfahrung im Gottesdienst als Sammlung. In Haiti widerfährt dem Gast Innigkeit geradezu umgekehrt: als Ausdruck, ja als Überschwang.

Die Freude an Gott hat keine Eile. In Haiti dauern Gottesdienste lange, angemessen lange. Denn die vielen Gläubigen sind eine Stunde zu Fuß und länger zur Kirche unterwegs. Bei solchem Aufwand darf die Feier nicht kurz sein. Die Gottesdienste sind (fast) immer überfüllt. Ein Gutteil der Gläubigen steht in Trauben vor den offenen Fenstern und Türen. Die Menschen strömen zur Kirche, weil sie inmitten ihrer Armut Gottes Zuwendung suchen – und finden: in der Kraft des Gebetes und in der Begeisterung der Feier der Großtaten Gottes. In Haiti hat sich das alte Wissen der Kirche bewahrt, das dem Gottesdienst den Namen gab: dass dabei nicht wir Gott dienen, sondern dass der Gottesdienst SEIN Geschenk an uns ist.

Die Katastrophe vor der Katastrophe

In Haiti ist Gottesglaube vor allem Gottesfreude und Gottvertrauen. Ihr Gottvertrauen hat die Haitianer immer schon getragen, „in guten wie in schweren Tagen“. Erschüttert von der Armut fragt sich der Besucher, wann es denn gute Tage für die Haitianer geben mag. Er sieht nur die schweren, er sieht unermessliches Elend. Denn lange vor der einmaligen Katastrophe des Erdbebens lastete die „normale“ Katastrophe auf den meisten Haitianern: unzureichende Ernährung, wenn nicht gar Hunger, Krankheit, erbärmliche Unterkünfte, Arbeitslosigkeit und Ausbeutung, Unwissen, Gewalt. Es scheint, als könne man in diesen Umständen nur verzweifeln. In der Tat: Viele verzweifeln, das ist, wenn man durch die Straßen geht, nicht zu übersehen. Die allermeisten aber entwickeln im Kampf für ihr Überleben und für eine bessere Zukunft für ihre Kinder eine solche Intelligenz der Improvisation, eine solche Widerstandsfähigkeit (Resilienz nennen es die Sozialwissenschaftler) und eine solche Kraft, Mühen zu ertragen, dass sich jeder Besucher aus Übersee, der dies erlebt, sich vor die Frage gestellt sieht, ob er dergleichen auch vermöchte. Stärker als die Bilder der Armut ist die – wenn er in Gedanken einen Vergleich mit der Heimat oder gar mit sich selbst zieht – manchmal beschämende Einsicht, was die Armen zu schultern vermögen, und zwar nicht in Bitterkeit, sondern in Würde und Lebensfreude trotz alledem, trotz aller Widrigkeiten und Fährnisse.

Die Wurzel dieser Kraft aber, das ist den Haitianern wichtig zu betonen, sind die Gottesfreude und das Gottvertrauen: „Gerade wir, die Kleinen, die Armen sind doch Gottes Favoriten!“ Gefragt, ob das Erdbeben nicht eher ein Grund sei, den Glauben zu verlieren, antworten sie: Wann denn soll der Glaube an den Auferstandenen uns tragen, wenn nicht inmitten der Verzweiflung? In einem wenige Tage nach dem 12. Januar geschriebenen Brief zitiert Bischof Pierre-André Dumas von Anse-à-Veau et Miragoâne den Apostel Paulus (2 Kor 4,8-9): „Allenthalben werden wir bedrängt, doch nicht erdrückt; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; … wir werden niedergestreckt, doch nicht vernichtet.“ Eines von vielen beredten Beispielen, wie Christen in Haiti ganz und gar aus der Heiligen Schrift leben.

Ein in Haiti häufig zu hörender Satz lautet: „Haïti, c’est un long Vendredi saint“ - „Haiti, das ist ein langer Karfreitag.“ Ein dort fast ebenso häufig zu hörendes Gebet überführt diese Alltagserfahrung (wohlgemerkt: auch schon vor dem Erdbeben!) – und das ist der springende Punkt – in die Glaubensgewissheit des Christen:
Karfreitag: das heißt, unter der Last des Kreuzes fallen.
Karfreitag: das heißt, sich mit dem Kreuz erheben, das heißt, seinen Karfreitag auf sich zu nehmen.
Karfreitag: das heißt glauben, dass es einen Simon gibt, der mir in der Verzweiflung hilft, der mir hilft, mein Kreuz zu tragen.
Karfreitag: das heißt glauben, dass es einen Ostermorgen gibt.
Die Fastenzeit, so sagte P. Max Delamour, als Margit Wichelmann Ende März 2010 Haiti besuchte, war unsere Zeit der Trauer. Doch jetzt steht Ostern vor der Tür. Ostern sei auch die Ermutigung, das Alltagsleben wieder aufzunehmen.

Theodizee und Anthropodizee

Kein Zweifel: Nicht jeder Haitianer vermag dieses Gebet mitzusprechen, erst recht nicht nach dem 12. Januar. Ja, auch in Haiti verzweifeln in diesen Monaten manche an Gott. Die Frage, warum das Erdbeben geschah, war in den Zeitungen und den Fernsehstudios hierzulande eine Frage an die Geologen. In Haiti bleibt dies eine Frage an Gott, als die uralte Frage der Theodizee: Wie kann der gute Gott solch unverschuldetes Leid zulassen? Wohlgemerkt: als Frage „an“ Gott, nicht als Frage „gegen“ Gott. In einer Theodizee aus einer haitianischen Haltung ist Gott nicht die Anklagebank zugewiesen. Stattdessen ist Gott der Anker, an dem der Mensch seine Klage festmachen kann.

Doch nicht nur an Gott richten die Haitianer ihre Fragen. Warum das Erdbeben, das nun einmal geschehen ist, derart schreckliche Folgen hatte, ist die Frage der Anthropodizee, eine Frage an menschliche Verantwortung: Warum geriet Haiti in eine solche Lage, dass ein Erdbeben, dessen Gewalt schwächer war als das in Chile am 27. Februar 2010, so ungleich mehr Menschenleben forderte? Nach dem 12. Januar war in Anbetracht all dessen, was dieses Land in den letzten Jahren und Jahrzehnten durchlitten hat, oft zu lesen: „Warum schon wieder Haiti?“ Dies ist keine Frage an Gott. Sie legt vielmehr die menschengemachten Verhältnisse und Versäumnisse offen – und das ist noch schmerzlicher. Weil die Bauern von ihren winzigen Feldern, deren Ackerkrume infolge der Abholzung der Wälder erodiert, nicht mehr leben können und in die Städte drängen, weil sie dort an steilen Hängen ihre Hütten bauen, die Wirbelstürme und jetzt das Erdbeben im Nu zusammenfalten, weil beim Bau von Häusern und Schulen betrügerisch Moniereisen „gespart“ und für den Beton billiger, salzhaltiger Sand von den Stränden eingesetzt wird, weil sich jede Bauaufsicht durch Schmiergeld „behandeln“ lässt, weil es keine Stadtplanung gibt und für Naturkatastrophen keine Rettungspläne, deshalb riss das Erdbeben nicht 230 oder 2.300, sondern mehr als 230.000 Menschen in den Tod.

Angesichts dessen, was sie zugelassen hat, angesichts der Folgen ist die haitianische Gesellschaft tief beschämt. Allerorten ist zu hören, dass das Ende des alten Haiti der Anfang eines neuen Haiti werden muss, dass es nicht um einen bloßen Wiederaufbau gehen kann. So schreibt Bischof Dumas: „Niemand von denen, die starben, hatte verdient, so plötzlich gehen zu müssen. Für uns, die wir zurückblieben, bleibt jetzt nur der Schmerz. Dies ist eine Prüfung für uns alle. Sie wird nicht ewig dauern. Doch wir müssen diese Prüfung im Glauben durchstehen, damit wir am Ende heiler als zuvor daraus hervorgehen. Unsere Nächstenliebe, mit der wir diese Krise durchleben, wird uns helfen, in unserer Menschlichkeit zu wachsen. Sie wird uns helfen, großherziger zu werden, offener und verfügbarer für Andere. … Alle Symbole, die uns verbunden haben, sind zerstört: die Kathedrale, der Präsidentenpalast, die Ministerien, die Schulen, die Ordenshäuser und viele andere liegen in Trümmern. … Ich meine, dies gibt uns die Gelegenheit, unser Land auf eine neue Art aufzubauen. … Wir haben die Chance, ein besseres Haiti zu bauen.“

P. laurent Pierre SMM, der Provinzial der Montfortaner, stand vor dem Schutthaufen, der einst „sein“ Centre Inter-Instituts de Formation Religieuse (CIFOR) gewesen war, die Theologische Hochschule der Orden: „Da liegt die Arbeit von 18 Jahren.“ Doch er versucht, sich zu fassen: „Wir wollen nach vorne schauen!“ Der haitianische Soziologe Laënnec Hurbon überschrieb seinen Artikel in „Le Monde“ mit „Haiti, Jahr null“.

Mir scheint, dass die vielbeschworene Rede vom „neuen Haiti“ mehr ist als nur Selbstermunterung oder gar Rhetorik. Denn der Schock hat die Haitianer verändert. Wie sie, die Armen (denn fast alle Haitianer sind arm), einander beigestanden haben, war bewegend. Sie waren es, die einander die Erste, die Zweite und die Dritte Hilfe leisteten. Lange bevor ausländische Rettungsteams eintrafen, lange bevor mit den ersten Hilfsflügen angeblich „die Welle der Solidarität“ einsetzte, war die Solidarität der Haitianer mit den Haitianern schon allgegenwärtig. Die in Haiti eingefallenen Kameraleute hingegen zeigten ihresgleichen: weiße Helfer. Wieder einmal funktionierte die Apartheid der Fernsehbilder, die Farbwahl für Helfer und Opfer. Mag ja sein, dass das stimmt, was die Fundraising-Experten erklären, dass nämlich ein weißer Spender am liebsten Weiße als die guten Helfer und die Schwarzen als die armen Opfer sieht und dass der Ansturm der Durstenden auf einen Lkw voller Trinkbeutel ein „besseres“ Bild ist als eine Frau, die ganz undramatisch ein überlebendes Nachbarkind aufnimmt.

Die „Wiedergewinnung der Brüderlichkeit“, wie Laënnec Hurbon es nannte, war alles andere als selbstverständlich. Zwar gibt es Tausende von Beispielen der Solidarität der Armen untereinander, absolutes Elend aber entsolidarisiert: Im Überlebenskampf ist sich ein jeder selbst der Nächste. Umso bemerkenswerter das Zusammenstehen nach jener Katastrophe, die mittelbar, durch die Netze der Verwandtschaft, alle Haitianer getroffen hat, auch die in den vom Erdbeben nicht betroffenen Gegenden. Keine Pfarrei, die nicht Flüchtlinge aufgenommen und mit dem Notwendigsten versorgt hätte.

„In der Tat schien, mitten in diesen gräßlichen Augenblicken, in welchen alle irdischen Güter der Menschen zu Grunde gingen, und die ganze Natur verschüttet zu werden drohte, der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume, aufzugehn. Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen: einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte. Statt der nichtssagenden Unterhaltungen, zu welchen sonst die Welt an den Teetischen den Stoff hergegeben hatte, erzählte man jetzt Beispiele von ungeheuern Taten: Menschen, die man sonst in der Gesellschaft wenig geachtet hatte, hatten Römergröße gezeigt; Beispiele zu Haufen von Unerschrockenheit, von freudiger Verachtung der Gefahr, von Selbstverleugnung und der göttlichen Aufopferung, von ungesäumter Wegwerfung des Lebens, als ob es, dem nichtswürdigsten Gute gleich, auf dem nächsten Schritte schon wiedergefunden würde. Ja, da nicht einer war, für den nicht an diesem Tage etwas Rührendes geschehen wäre, oder der nicht selbst etwas Großmütiges getan hätte, so war der Schmerz in jeder Menschenbrust mit so viel süßer Lust vermischt, daß sich, wie sie meinte, gar nicht angeben ließ, ob die Summe des allgemeinen Wohlseins nicht von der einen Seite um ebenso viel gewachsen war, als sie von der anderen abgenommen hatte.“ In der Mitte seiner Novelle „Das Erdbeben in Chili“, nach der Schilderung der Verwüstungen durch die Naturgewalten, vor dem Ausbruch der weit ärgeren Grausamkeit der Menschen, lässt Heinrich von Kleist seine Leser aufatmen und hoffen.

Was die Haitianer hoffen lässt, ist neben der „Wiedergewinnung der Brüderlichkeit“ untereinander der überwältigende Beistand aus der ganzen Welt. Der 12. Januar unterbrach die nichtssagenden Unterhaltungen an den Teetischen. Haiti erfuhr eine Aufmerksamkeit wie nie zuvor. P. Edison Barthélémy Feuille, Pfarrer von Beaumont, schreibt in einem Brief an Adveniat: „Was uns passiert, ist schlimm, aber der heilige Paulus sagt: Seid dankbar in allen Dingen. Wir haben in diesen schwierigen Momenten beobachten können, dass die Welt nicht so schlecht ist, wie man es denkt. Die Solidarität von allen Seiten zeigt uns, dass wir umgeben sind von Freunden, von wahren Freunden.“ Damit der ersehnte Aufbau eines „neuen Haiti“ gelingen kann, ist es notwendig, dass die Haitianer selbst die Maßstäbe setzen und nicht das finanziell übermächtige Ausland den Takt vorgibt: gut gemeint und dennoch fehl am Platze. P. Jan Hanssens CICM, der aus Flandern stammende Leiter der Kommission „Justice et Paix“, mahnt, dass es keinen „Wettlauf um den größten Anteil am Helfer-Ruhm“ geben darf (im Blick auf die Spender kommt eine solche Versuchung durchaus auf), und bittet die Helfer, sich nicht zu Herren aufzuschwingen. Laënnec Hurbon spricht von der „Versuchung der Gängelei“.

Haiti, 12. Januar 2020

Ein „neues Haiti“ zu schaffen, braucht Geduld und Ausdauer. Auch in zehn Jahren werden die physischen Spuren des 12. Januar 2010 überall sichtbar sein. Gebe Gott, dass Haiti dann nicht wieder jener Vergessenheit anheimgefallen ist, aus der das Land in der Vergangenheit nur mit Schreckensmeldungen kurzfristig auftauchte. „Vergiss mein Haiti nicht!“, heißt deshalb eine Kampagne von Adveniat, die daran erinnert, dass Haiti gerade dann Aufmerksamkeit braucht, wenn die Fernsehbilder schon längst der nächsten Schlagzeile hinterhergezogen sind. In den vor uns liegenden Jahrzehnten braucht es, so der Adveniat-Geschäftsführer Prälat Bernd Klaschka, „Reis und Rosenkranz“. Vonnöten ist der materielle Aufbau, z.B. den daniederliegenden Reisanbau im Artibonite-Tal wiederzubeleben, um das Land aus der lähmenden Abhängigkeit von Lebensmitteleinfuhren zu lösen, als auch „die Menschen aufzubauen“. Dazu gehört die Wiederherstellung oder der Neubau der eingestürzten Kirchen. Denn die Gotteshäuser sind und bleiben – neben den Gräbern – die Ankerorte der Trauer und der Klage. Dazu gehört die Seelsorge, auch als Heilung der traumatisierten Seelen. In einer Talkshow zum Thema „Erdbeben in Haiti“ schlug ein Psychotherapeut vor, die bewährten europäischen Standards der Traumabehandlung auch Haiti zugutekommen zu lassen. Das war nett gemeint, und liegt doch weit daneben. Denn die Grundlage der Heilung ist eben nicht die durch Aufklärung, Säkularisierung und Postmoderne hindurchgegangene europäische Lebensform, sondern das haitianische Gottvertrauen. Jetzt erweist sich, wie gut es war, dass mehrere haitianische Frauenorden einige ihrer Schwestern am Institut de formation humaine intégrale de Montréal in Kanada die Theologie der Geistlichen Begleitung haben studieren lassen. Ihre Kenntnisse werden sehr gebraucht, jetzt, da die Suche nach Überlebenden den Schmerz nicht mehr lindern hilft. Aus ihrer Arbeit, aus der Bewährung der haitianischen Christen im Glauben, gerade in dieser Zeit, wird eine Theologie des Weiterlebens entstehen.

Eine besondere Sorge und Seelsorge gilt den Hinterbliebenen, die um den Tod ihrer vermissten Angehörigen wissen, doch ohne ein Grab zurückbleiben, an dem sie trauern könnten. Abertausende von Erdbebenopfern wurden in Massengräbern beigesetzt. Schlimmer noch: Die meisten derer, die in aller Eile verscharrt wurden, waren nicht einmal identifiziert worden. Diese klaffende Wunde wird noch Jahre und Jahrzehnte nachwirken. Es ist für die Familie eine Schande, wenn ein Angehöriger nicht in Würde bestattet wird. Denn im Leben der Haitianer ist die Feier der Vollendung des Lebens die allergrößte.

Warum wirkt die durch die anonymen und die Massenbestattungen verursachte Ortlosigkeit gerade in Haiti so belastend? Die haitianische Kultur wurzelt in afrikanischen Kulturen, denn die Haitianer sind die Nachkommen jener in die damalige französische Kolonie Saint-Domingue deportierten Sklaven, die vor gut 200 Jahren das Joch ihrer Herren abgeschüttelt haben. Das System ihrer religiösen Vorstellungen und Kulte, in das auch Ausdrucksweisen katholischer Frömmigkeit einflossen, ist der Vodou. So kommt es, dass eine Beerdigung in Haiti mit nicht geringem Aufwand zelebriert wird wie in der afrikanischen Tradition, z.B. in Ghana (immer vorausgesetzt, die Familie ist imstande, das für eine angemessene Feier nötige Kapital aufzubringen, und sei es durch einen über lange Jahre abzuzahlenden Kredit).

In seinem Standardwerk „Voodoo in Haiti“ widmet der Ethnologe Alfred Métraux dem Kapitel „Der Totenkult“ nicht weniger als 25 Seiten. Er schildert die Komplexität der nach dem Tode in genauer Abfolge zu vollziehenden Riten: die „Loslösung“, die Leichenwäsche, die Totenwache, die Gesänge am Sarg, das „Zerbrechen des Kruges“ und das „Brennen der Töpfe“ als reinigende Riten, das Anlegen der Trauerkleidung, das Begräbnis und die Gestaltung des Grabes. Jede Geste, jede Gebärde zeigt den Respekt vor dem Verstorbenen. Respekt voreinander ist ein Grundwert haitianischer Kultur. Allüberall hört man diese beiden kreolischen Begriffe: „one, respe“: „Ehre und Respekt“, man kann auch übersetzen: Würde. Höchsten Respekt, keinen Deut weniger als den Lebenden, zollt man den Toten.

Auch wenn im 21. Jahrhundert der Vodou zumal in den großen Städten kaum noch so praktiziert wird, wie Métraux es vor 60 Jahren beschrieb, so lässt sich doch erahnen, welche Bitterkeit die Formlosigkeit von Beisetzungen hinterlassen muss. Denn der Vodou ist – nicht nur, aber eben auch – eine Religion der Angst vor den Verhängnissen, welche die Nichterfüllung des Ritus nach sich zieht.

Von dieser Angst sind auch die Christen nicht frei. So wie das Christentum den Vodou beeinflusst, so prägen Elemente des Vodou weiterhin das Empfinden und das Tun vieler Katholiken. Die haitianische Kultur ist keine Kultur des Entweder-oder. Nur die aus den USA kommenden evangelikalen Kirchen machen einen Schnitt: Sie verlangen von ihren Anhängern, sich „für Jesus“ zu entscheiden und „Satan“ (gemeint: die Gottheiten und Geister des Vodou) zu widersagen. Dass evangelikale Prediger in den USA wie in Haiti selbst nun versucht sind, vom „Ende der Zeiten“ zu sprechen, mag noch hingehen. Haiti hat eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes erlitten, und die Überlebenden leben in Umständen, die die Medien wieder und wieder als „apokalyptisch“ bezeichnen. Unerträglich aber ist, dass diese Prediger die Opfer verhöhnen, indem sie behaupten, die Toten hätten sich selbst als „Satanisten“ das Verderben aufs Haupt geladen.

Ganz anders die katholischen Bischöfe, die halfen, statt zu verdammen. Eingedenk dessen, welch hohen Wert die Haitianer der Korrektheit des Ritus beimessen, taten sie gut daran, sogleich nach dem Erdbeben durch eine Abkündigung in allen Pfarreien zu versichern, dass in dieser außerordentlichen Notlage eine Bestattung auch dann „genügt“, wenn sie nicht der ordentlichen kirchlichen Begräbnisfeier entspricht, selbst dann, wenn nicht mehr als ein kurzes Gebet möglich ist. Diese Klarstellung, über die ein ahnungsloser Journalist einer großen deutschen Zeitung sich meinte mokieren zu müssen (im Sinne von: die katholische Hierarchie hat nichts Besseres zu tun, als sich mit liturgischem Kleinkram zu befassen), war für die Gläubigen alles andere als banal. Sie war befreiende Pastoral: eine Befreiung von der Angst, sich an den Toten schuldig zu machen.

Autor: Michael Huhn

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