Fotokunst gegen Gewalt
Auf Plakatwänden sind in der venezolanischen Hauptstadt Caracas derzeit überlebensgroße Schwarzweiß-Porträts von mehr als 50 Frauen zu sehen. Die Gesichter gehören keinen Fotomodellen, sondern Müttern, die ihre Kinder durch die ausufernde Gewalt verloren haben.
"Die Jugendlichen, die mit meinen Kindern in unserem Viertel aufwuchsen, hatten immer Waffen bei sich. Fast alle von ihnen sind inzwischen tot", sagt Rita Hernández, deren Söhne im Alter von 25 und 19 Jahren getötet wurden. "Ich bin nicht aus dem Haus ausgezogen. Jedes Mal, wenn ich es verlasse, denke ich an meine toten Kinder", erzählt Maria Elena Delgado, die zwischen 1999 und 2008 zwei Söhne und eine Tochter verloren hat. "Ich bin geblieben, um die Gemeinde zu unterstützen, damit anderen Jugendlichen hier nicht das Gleiche passiert."
Eine Minute für den Kummer der Mütter
Die meisten Verbrechen werden in den Armenvierteln begangen. Aus diesen "barrio" stammt auch der größte Teil der Mütter, die sich an der Plakataktion beteiligen. Das "Projekt Hoffnung" will die öffentlichkeit auf die Hinterbliebenen der Gewaltopfer aufmerksam machen. "Uns ging es darum, den Opfern ein Gesicht zu geben. An die tägliche Gewalt sind wir schon so sehr gewöhnt, dass wir dagegen abstumpfen", sagt Maria Fernanda Pérez, die die Initiative gemeinsam mit Carolina González ins Leben gerufen hat. "Diejenigen, die an den Plakaten vorbeikommen, sollen sich eine Minute Zeit nehmen, um über den Kummer dieser Mütter nachzudenken. Denn die Opfer sind mehr als nur Zahlen, die in der Presse vermeldet werden."
Mehrere Fotografen hatten die 52 Frauen fotografiert. Die Bilder wurden auf ein Format von 1,80 mal 2,40 Meter vergrößert, einige haben sogar ein Ausmaß von 3,60 mal 5,40 Metern. "Das Projekt ist eher ein Ruf nach Frieden als eine Anklage. Wir wollen zeigen, dass es Hoffnung auf Gerechtigkeit gibt", erklärt Pérez. "Mit jedem Tag können so mehr Leben gerettet werden."
Caracas gefährlichste Stadt Südamerikas
In dem südamerikanischen Land mit 29 Millionen Einwohnern werden jährlich etwa 13.000 bis 14.000 Menschen ermordet. Weitere 8.000 Todesfälle, die im Zusammenhang mit Widerstand gegen die Staatsmacht stehen oder bei denen die Ermittlungen noch laufen, lassen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation PROVEA die Zahl der gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen auf über 70 pro 100.000 Einwohner im Jahr steigen. Bereits die offizielle Mordrate von 48 pro 100.000 im Jahr ist eine der höchsten weltweit. Ähnliche Zustände herrschen in El Salvador, Honduras und Jamaika, wie das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) feststellte. Mit einer Mordrate von 122 pro 100.000 Einwohner ist Caracas demnach die gefährlichste Stadt Südamerikas.
"So zu leben, ist ein Alptraum", bekennt Bebeka Pichardo, deren 24-jähriger Sohn Taner im vergangenen Jahr getötet wurde. Sie fühle sich seitdem gebrandmarkt, sagt sie. Und die Welt um sie herum nehme keinen Anteil an ihrem Schmerz. "Obwohl mehr als 80 Prozent der Opfer zumeist Männer sind, suchen die Frauen nach Gerechtigkeit", sagt Liliana Ortega, die das Komitee der Angehörigen von Gewaltopfern (COFAVIC) leitet. Die Organisation wurde gegründet, nachdem 1989 hunderte Menschen bei Protesten ums Leben kamen.
Frieden schaffen statt Vorwürfe machen
Der Schriftsteller Alberto Barrera hebt lobend hervor, dass durch das Projekt "plötzlich menschliche Erfahrung in den Vordergrund rückt". Die Opfer würden zu Sinnbildern für Vertrauen in die Zukunft. "Die Gesichter der 52 Frauen sollen uns keine Vorwürfe machen, sondern uns dazu auffordern, Frieden zu schaffen."
Das Projekt Hoffnung wird von dem Bündnis ´Inside out´ unterstützt, in dem sich Fotografen aus aller Welt zusammengeschlossen haben. Initiator war ein französischer Künstler, der sich "JR" nennt. Während der vergangenen zehn Jahre hat "Inside out" in mehreren Städten ähnliche Fotoaktionen wie in Caracas durchgeführt.
Unter anderem stellte die Bewegung in Israel und den Palästinensergebieten Bilder von Israelis und Palästinensern aus, die einander ansehen. In Brasilien wurden Frauen gezeigt, die in der gefährlichen Favela "Morro da Providência" in Rio de Janeiro leben. In einem Zug in Kenia wurde außerdem die Fotoserie "Frauen sind Heldinnen" präsentiert. Ältere Menschen wurden auf Mauern in der kolumbianischen Stadt Cartagena porträtiert. Im Umkreis der mexikanischen ´Stadt der Frauenmorde´ Ciudad Juárez sieht man Bilder von Menschen, die lachen oder Grimassen schneiden.
Autor: Humberto Márquez, deutsche Bearbeitung: Corina Kolbe, IPS-Weltblick
Mütter in Caracas. Foto: Fidel Márquez, IPS-Weltblick