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Chile |

Filmrezension: Los versos del olvido - Im Labyrinth der Erinnerung

Eine Szene aus dem Film (Ausschnitt: YouTube)
Eine Szene aus dem Film (Ausschnitt: YouTube)

Auf einem Hügel über der Hauptstadt Chiles liegt der Friedhof. Dort arbeitet ein alter Mann im Leichenschauhaus. Die Zeit der Diktatur und der brutalen Unterdrückung ist vorbei; jetzt soll alles vergessen werden.

Auch der Alte hat eine Vergangenheit, an die er sich nicht mehr erinnern möchte, die aber immer gegenwärtig ist. Fotos und Dokumente lassen ihn immer wieder an seinen Sohn denken, dessen Namen er nicht mehr nennen mag. Auch er verschwand in den Jahren des Terrors. "Los Versos del Olvido" (Die Strophen der Erinnerung) erzählt poetisch eindringlich über das Weiterleben um den Preis des Vergessens und verbindet dabei überzeugend eine melancholische Grundstimmung mit Momenten von grotesker Absurdität und schwarzem Humor.

Viele Einwohner des Landes haben Gedächtnislücken. Etwa der zuvorkommende Mann mit dem chilenischen Akzent, der sich bei der Suche nach einem Grab verlaufen hat. Der Alte erkennt ihn, sie waren zusammen im Gefängnis. Drei Menschen habe er getötet. Warum er dann trotz der lebenslänglichen Verurteilung so früh entlassen worden sei, fragt der Besucher den alten Mann. Er habe sich im Gefängnis nützlich gemacht und die Leichen der politischen Häftlinge in den Massengräbern mit Kalk überschüttet, sagt der Alte. Da verflucht ihn der andere und geht. Das Land ist voller Geschichten über Tod und Verrat, Exil und Terror. Geschichten, die zum Teil auch in den verwahrlosten Katakomben des Friedhofsarchivs lagern, in einem Labyrinth des Schreckens, in dem es nicht mal elektrisches Licht gibt. Für den alten Mann sind die Tage eintönig. Der Alte hat kaum noch Freunde, nur den blinden Totengräber und den traurigen Fahrer, der von der Welt außerhalb des Friedhofs erzählen kann, von Unruhen und Protesten in der großen Stadt.

Ein Überfall

Doch die Zeiten ändern sich. Längst hat am anderen Ende der Stadt ein neues Leichenschauhaus geöffnet. In den Fernsehnachrichten hört man, dass sieben Wale an der Küste gestrandet seien. Auch die Routine des Alten wird jäh unterbrochen. Im Leichenschauhaus überfallen ihn vermummte Schläger, vielleicht eine Todesschwadron, die die Toten verstecken will, die vorher bei einem Protest niedergeknüppelt wurden. Sie verschleppen den alten Mann in die Dünen, töten ihn aber nicht.

Seine Freunde raten ihm, sich einfach an kein Detail des Überfalls mehr zu erinnern; nur so könne er sein Leben retten. Mit dieser Zusage schickt ihn die Friedhofsverwaltung in den vorzeitigen Ruhestand. Es scheint, als würde der alte Mann den Friedhof hinter sich lassen. Doch dann entdeckt er, dass die Leiche einer jungen Frau in den Kühlkammern liegen geblieben ist. Ihr will er ein würdiges Begräbnis geben. Damit sie auf dem Friedhof begraben und nicht im anonymen Massengrab verscharrt wird, muss er allerdings ihre Identität fälschen.

Überzeugende Schauspieler

Der Debütfilm des iranischen Regisseurs Alireza Khatami verbindet auf meisterhafte Weise politische Motive mit magischem Realismus und einer kafkaesk-grotesken Atmosphäre. Friedhof und Leichenschauhaus sind Metaphern für eine Gesellschaft, die ihre Vergangenheit verscharrt hat, aber trotzdem keinen Frieden findet. Dem französischen Kameramann Antoine Heberle gelingen beeindruckende, oftmals sehr überraschende Bilder, etwa wenn im Morgengrauen eine riesige steinerne Hand aus dem Sand ragt.

Inszenatorisch glänzt der Film mit knappen Sequenzen, etwa wenn ein Erdbeben durch einen wackelnden Gartentisch mit einem umstürzenden Wasserglas verdeutlicht wird. Auch die drei Hauptdarsteller beeindrucken durch ihre zurückgenommene Spielweise: Juan Margallo als alter Mann, Tomas del Estal als blinder Totengräber und Manuel Moron als zaudernder Leichenwagenfahrer. In Erzählrhythmus und Atmosphäre erinnert "Los Versos del Olvido" (ab Donnerstag im Kino) an Klassiker des iranischen wie des lateinamerikanischen Kinos, insbesondere an "Post Mortem" (2010) von Pablo Larraín über ein Leichenschauhaus während der Pinochet-Diktatur.

Autor: Wolfgang Hamdorf

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