Filmkritik: Vom Leben am Tucuruí-Stausee
Ein Dokumentarfilm in Schwarz-Weiß erzählt davon, wie der Bau eines Staudamms im brasilianischen Amazonasgebiet das Leben der Menschen und die Natur verändert hat.
Eine gekräuselte Wasseroberfläche, auf der der Wind seine Spuren hinterlässt und sich schnörklige Schaumkronen bilden. Die Kamera schwenkt nach oben und legt plötzlich den Blick auf die gewaltigen Wasserturbinen am Tucuruí-Stausee frei. Schnitt. Das Filmteam lädt sein Equipment auf ein Boot um, und Regisseur Fernando Segtowick unterhält sich darüber, wie er die Bäume im Regenwald zu filmen gedenkt.
Dass sich der Regisseur als Akteur in seinen Dokumentarfilm mit einbringt, ist eine der Eigenheiten von „O reflexo do lago“ („Amazon mirror“). Allerdings nicht, um sich als allwissender Erzähler zu gerieren, wie Segtowick im Publikumsgespräch ausführt, sondern im Gegenteil, um die nicht seltene „Arroganz der Filmemacher“ zu konterkarieren. Der Film enthält darum auch Momente des Scheiterns: In einer Szene redet Senhor Vicente mit Freunden am Tisch darüber, wie viele Fische es früher noch im Fluss gab, bevor der Stausee angelegt wurde. Als er dem Regisseur aber zum Einzelinterview gegenübersitzt, bringt Vicente kein Wort mehr heraus.
Projekt der Militärregierung
Angelegt wurde der Tucuruí-Stausee von der brasilianischen Militärregierung seit Mitte der 1970er Jahre am Tocantins-Fluss, einem Nebenarm des Amazonas, gute 400 Kilometer südlich von Belém im Bundesstaat Pará. Der Stausee war Grundlage für die Errichtung eines riesigen Wasserkraftwerks, das immer noch zu den zehn größten in der Welt gehört und in erster Linie Strom für die energieintensive Aluminiumherstellung liefert. Es war das erste große Infrastrukturprojekt der Region. Ohne Rücksicht auf Mensch und Natur wurden dafür fast 2.500 Quadratkilometer Wald überflutet – knapp fünf Mal die Fläche des Bodensees. Von den dadurch verursachten ökologischen und sozialen Verwerfungen erfährt man in „O reflexo do lago“ allerdings eher am Rande; etwa, wenn die Bewohner davon erzählen, dass sie bis heute auf die lange versprochenen Solarpanele warten, die ihnen Strom liefern sollen.
Dafür bietet der Debütfilm Fernando Segtowicks, der am Montag in der Berlinale-Sektion Panorama Dokumente vorgestellt wurde, lange Einstellungen vom See, der umliegenden Natur und den Menschen, die am Lago de Tucuruí leben; unterlegt mit einer Tonspur, in der es zirpt und fiept, kreischt und quakt, und das Rattern der Bootsmotoren zum ständigen Begleiter wird. Am eindrucksvollsten sind die Aufnahmen der toten Bäume, die wie Mahnmale ohne Blattwerk und Äste aus dem Wasser ragen. Oft ist das mit einer statischen Kamera gedreht, die in einer Halbtotale stoisch das ablichtet, was sich vor ihr abspielt. So begleitet man die Menschen vom Tucuruí-Stausee unter anderem zu Tanzfesten, Gottesdiensten und beim Fußballspielen.
Kampf um das unabhängige Kino
Eine weitere Besonderheit von „O reflexo do lago“ ist, dass er konsequent in Schwarz-Weiß gedreht ist, obwohl man angesichts der üppigen Natur pralle Farben erwarten würde. Segtowick will damit vor allem die Zeitdimension betonen. Vorangestellt ist dem Film ein Zitat vom damaligen Präsidenten Getúlio Vargas aus dem Jahr 1945, in dem er die unermesslichen Entwicklungspotentiale der Amazonasregion preist. Später ist die Stimme des aktuellen Präsidenten Jair Bolsonaro aus dem Hintergrund zu hören, der die Situation – noch 75 Jahre später – ganz ähnlich wie Vargas beschreibt. Das sind keine leeren Worte: Unlängst hat der rechtsextreme Bolsonaro ein Gesetz vorgelegt, das es Konzernen erlauben soll, sogar in indigenen Schutzgebieten nach Bodenschätzen zu graben, Erdöl zu fördern und Wasserkraftwerke zu errichten.
Die Berlinale begleitet solche Entwicklungen seit langem und räumt dem brasilianischen Kino viel Raum ein. Dieses Jahr kommen mit 19 Filmen so viele zum Internationalen Festival nach Berlin wie nie zuvor – vom im Wettbewerb laufenden Historiendrama „Todos os mortos“ über die Zeit nach der Sklavenbefreiung bis zu zwei zeitgenössischen Coming-of-Age-Filmen über starke Außenseiter-Mädchen in der Sektion Generation 14+ („Meu nome é Bagdá“ und „Alice Júnior“). Doch weil der rechtsextreme Bolsonaro bei seinem Kampf um die kulturelle Deutungshoheit das brasilianische Kino nicht ausnimmt, könnte sich das bald ändern. Nachdem der staatlichen Filmagentur Ancine das Budget drastisch gekürzt wurde, musste mit dem Institut Olga Rabinovich aus São Paulo schon dieses Jahr eine nicht-staatliche Organisation einspringen, um die Teilnahme der nach Berlin eingeladenen Filme und ihrer Crews zu ermöglichen.
Eigenwilliger Dokumentarfilm
„O reflexo do lago“ ist dabei keine Sozialreportage über Umweltzerstörung am Amazonas, sondern eine eigenwillige Dokumentation über die Menschen und die Natur am Tucuruí-Stausee und seinen Inseln. Und obwohl der Film Fragen offenlässt, entwickelt er einen eigenen Rhythmus und Sog. Mehr darüber zu erfahren, wie die Porträtierten ihren Alltag bewältigen, wäre trotzdem schön gewesen.
„O reflexo do lago“ (R.: Fernando Segtowick, Brasilien 2020) ist bei der Berlinale noch drei Mal zu sehen: am Mi., 26. 2., um 13.15 Uhr im Cubix 7 (Alexanderplatz, Rathausstraße 1, 10178 Berlin), am Do., 27. 2., um 20.30 Uhr im Cubix 5 (Alexanderplatz, Rathausstraße 1, 10178 Berlin) und am So., 1. 3., um 13.15 Uhr im Cubix 7 (Alexanderplatz, Rathausstraße 1, 10178 Berlin)