Fiktionalisierte Biographie eines Tango-Stars
Der Tango ist ohne Zweifel die größte Leidenschaft vieler Argentinier. Und unter allen Künstlern, Sängern, Komponisten und Musikanten ist es wiederum einer, dem die größte Leidenschaft der Tangoliebhaber gilt: Carlos Gardel. Der Argentinier war in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der ausschlaggebende Tango-Interpret. Seine Schallplattenaufnahmen zählen zu den Klassikern des Genres. Die Musikfilme, die vollständig auf seine Solo-Auftritte zugeschnitten waren, sind heute noch Kult. Carlos Gardel war der Superstar des populären lateinamerikanischen Musikbetriebs.
Der Schriftsteller Pedro Orgambide hat dem Sänger mit seinem kurzen biographischen Roman „Ein Tango für Gardel“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Ausgehend von dem plötzlichen Tod Gardels in Folge eines Flugzeugabsturzes im Jahre 1935 führt der Text den Leser nach Südfrankreich, an den Herkunftsort Gardels und seiner Mutter. Orgambide stellt die ärmlichen Verhältnisse der europäischen Einwanderer dar, aus denen sich der junge Mann durch seinen Gesang befreien kann. Und er zeichnet den kometenhaften Aufstieg des Künstlers nach, seine Erfolge in ganz Lateinamerika, den USA und Europa.
Orgambides Roman, der übrigens aus dessen Nachlass veröffentlicht wurde und jetzt in der Übersetzung von Carsten Regling in einer kleinen Argentinien-Taschenbuchreihe beim Wagenbach-Verlag herauskam, ist kein linear erzählter Lebensbericht. Wir haben es vielmehr mit einer verspielten Mischform zu tun: Mal klingt die Erzählung märchenhaft, fast naiv, etwa wenn die kleine, unbedeutende Welt des jungen Gardel mit der großen Welt von Politik, Kriegen und Revolutionen in Verbindung gebracht wird. Mal enthält der Text Elemente, die an Heldensagen erinnern, etwa wenn die Hauptfigur auf einer Schiffspassage zufällig mit dem weltberühmten Tenor Enrico Caruso zusammentrifft oder wenn ihn der Prince of Wales zu einem Umtrunk einlädt. Wie man es aus jüngeren Geschichts-Dokus aus dem Fernsehen kennt, werden echte oder auch nur erfundene Statements von Zeitzeugen, die mit dem Star in Verbindung standen, in die Erzählung hinein montiert, was dem Text mehr Authentizität verleihen soll. Dabei geht es dem Autor nicht um die endgültige Absicherung der Biographie von Carlos Gardel. Es bleibt vielmehr eine Menge im Vagen, im Ungefähren, was die Lektüre zu einem leichten, beinahe schwebenden Vergnügen macht.
Kurz nach seinem plötzlichen Tod setzte eine Debatte über Gardels Herkunft ein. Es hieß, er sei möglicherweise gar kein Argentinier, sondern der Sohn eines Mannes aus Uruguay. Die Behauptung wurde in den 1930er Jahren entkräftet, wird jedoch bis heute weiter kolportiert. So taucht in Pedro Orgambides Roman eine mysteriöse Figur auf, der so genannte „Mann aus Tacuarembó“, wobei der Name auf einen Ort in Uruguay verweist. Die Figur ist eine Art Todesengel, der letzte Anblick, den die Romanfigur Gardel vor dem Flugzeugunglück wahrnimmt. Der Leser merkt: Es bleibt auch nach der Lektüre ausreichend Raum für die Fortschreibung von Legenden.
Thomas Völkner
Pedro Orgambide: Ein Tango für Gardel, 157 Seiten, WAT-Band 640, Berlin: Wagenbach 2010, ISBN 978-3-8031-2640-5, Preis: 10,90 Euro