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Chile: Wut und Hunger wachsen in der Quarantäne

 

Die Menschen in Santiago de Chile fühlen sich von der Regierung in der Corona-Krise im Stich gelassen - Proteste in den Armen- und Arbeitervierteln weiten sich aus.

Protest in Chile gegen Hunger im Angesicht der Corona-Pandemie. 

"Wenn uns nicht das Virus tötet, tötet uns der Hunger" oder "Piñera ist tödlicher als das Coronavirus" steht auf den Plakaten der Protestierenden in Santiago de Chile. Die ersten größeren Proteste fanden Mitte Mai in der Gemeinde El Bosque am südlichen Stadtrand der Hauptstadt statt. Von dort aus breiteten sie sich auf immer mehr Viertel aus. Mit Löffeln schlagen die Menschen auf leere Kochtöpfe - "cacerolazo" heißt diese Protestform in Chile.

Über 70.000 Fälle von Coronavirus gibt es Mitte Mai in Chile, die Zahl der täglichen Neuinfektionen erreichte zuletzt das Rekordniveau von 5000. Gut 90 Prozent davon stammen aus der Hauptstadt. Die Gemeinden, in denen sich das Coronavirus am schnellsten ausbreitet, sind die Armen- und Arbeiterviertel am Stadtrand wie El Bosque, San Bernardo, Puente Alto und La Pintana.

"Der Staat lässt uns im Stich"

Die 31-jährige Stephanie Hurtado ist Präsidentin eines Nachbarschaftsverbands in der Gemeinde La Pintana. Immer wieder hat es dort in den letzten Tagen Proteste gegeben. "Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren. Sie verkaufen ihr Hab und Gut auf dem Flohmarkt, um sich etwas zu Essen kaufen zu können", sagt sie. Hurtado lebt in einer "población", so werden die dicht besiedelten Armen- und Arbeiterviertel in Santiago genannt. "Auf 35 Quadratmetern leben zwischen sechs und vierzehn Personen. Für sie ist es unmöglich, die Quarantäne einzuhalten. Einer muss immer das Haus verlassen, um das tägliche Brot zu verdienen und wenn er sich mit dem Virus ansteckt, steckt er alle mit an", sagt sie.

Der Protest auf der Straße sei die einzige Möglichkeit, sich politisch Gehör zu verschaffen. "Wir fordern schon seit langer Zeit mehr soziale Rechte. Die Coronavirus-Pandemie hat unsere Not nur noch verschärft und uns gezeigt, was soziale Ungleichheit bedeutet. Hurtado hat ihren Job noch nicht verloren, sie ist Lehrerin. "Die Hälfte meines Einkommens gebe ich für Lebensmittel für meine Nachbarn aus. Wir müssen uns gegenseitig helfen, weil der Staat uns im Stich lässt."

Viele haben kein Einkommen

Die Regierung hat ein Gesetzesdekret erlassen, das Unternehmen erlaubt, die Verträge der Angestellten zu suspendieren und ihnen keinen Lohn zu bezahlen. Die Arbeitslosigkeit liegt auf dem höchsten Wert der letzten zehn Jahre. Hinzu kommt, dass ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung in Chile im informellen Sektor arbeitet, also gar keinen Vertrag hat. Viele haben deshalb jetzt keinerlei Einkommen.

Präsident Piñera hat zwar 2,5 Millionen Hilfspakete mit Lebensmitteln angekündigt, sowie eine Notfallzahlung von durchschnittlich 100 Euro pro Haushalt - bei ähnlich hohen Lebenshaltungskosten wie in Europa. Die Unterstützung steht aber nur den ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung zu.

Ob man zu diesem Teil der Bevölkerung gehört, dokumentiert der "Registro Social de Hogares". Aber viele, die erst vor Kurzem ihre Arbeit verloren haben, sind dort nicht registriert. Die Sozialämter sind entweder geschlossen oder es gibt lange Schlangen, in denen man riskiert, sich mit dem Virus anzustecken.

"Es gibt eine neue Protestwelle wegen des Hungers"

Gonzalo Carpintero und Leonardo Troncoso aus der Gemeinde El Bosque, beide um die 30, helfen dort, wo keine staatliche Hilfe ankommt. Über ihre Instagram-Seite "El Boske Resiste" sammeln sie Spenden und kaufen davon Lebensmittel für bedürftige Familien. "Wir haben uns verpflichtet gefühlt, aktiv zu werden und zu helfen. Darum geht es auch bei unserer Bewegung. Es ist eine solidarische Bewegung", sagt Carpintero. Damit meint er die Protestbewegung, die sich seit dem 18. Oktober 2019 im Chile ausgebreitet hat. Sie richtet sich vor allem gegen die soziale Ungleichheit im Land und das neoliberale Wirtschaftssystem, das Privatisierungen vorangetrieben und den Staat verkleinert hat.

"Jetzt gibt es eine neue Protestwelle wegen des Hungers. Aber letztendlich geht es um das Gleiche. Armut und Hunger gab es auch schon vorher, aber sie wurden versteckt", sagt er. "In den Reichenvierteln ist alles schön, da ist es wie in einem anderen Land. Aber hier sieht es anders aus. Hier gibt es keine Hochhäuser aus Glas, keine Büros. Hier leben die Menschen, die diese Hochhäuser bauen und die den Unternehmern das Geld erarbeiten."

Die "olla común" - eine solidarische Suppenküche

Carpintero und Troncoso kaufen Linsen, Bohnen, Reis und Nudeln, die sie entweder direkt zu den Familien bringen oder zu den "ollas comunes", den solidarischen Suppenküchen. Eine davon organisieren die Schwestern Caren und Constanza Ponce mit ihrer Mutter, Familie und Freunden in der Villa El Olivo in San Bernardo. Sie kochen Linseneintopf für 60 Personen. Normalerweise würden sie auf der Straße das Essen verteilen. "Das machen wir nicht, einerseits damit es keine Menschenansammlungen gibt und andererseits, damit die Polizisten uns nicht den Topf umtreten, wie sie es in anderen Vierteln gemacht haben", sagt Caren Ponce. Deshalb füllen sie das Essen bei sich zu Hause in Behälter ab und bringen es dann zu Obdachlosen und zu bedürftigen Familien.

Die "olla común" hat eine lange Tradition in Chile. Ihren Ursprung hat sie in der Wirtschaftskrise 1929, auch in den 1980er Jahren während der Pinochet-Diktatur kochten Frauen in den "poblaciones" für die Armen und Arbeiter. "Die olla común hat ihren Ursprung in der Armut. Bis heute gibt es in Chile Armut und Hunger. Mit der Pandemie ist das ans Licht gekommen", sagt die 24-jährige Constanza Ponce. "Wir erhalten keine Hilfe vom Staat. Die Kisten, die sie im Fernsehen zeigen, sind hier nicht angekommen. Wir sind keine Reichen, die Armen helfen, sondern wir unterstützen uns gegenseitig." Ihre Schwester fügt hinzu: "Das Volk hilft dem Volk."

Autorin: Sophia Boddenberg, Quelle: Deutsche Welle

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