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Bolivien: Corona, Demos, politisches Chaos

 

Die rechte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez will nicht von der Macht lassen. Der linke Ex-Präsident Evo Morales mischt aus dem Exil mit. Die Corona-Pandemie bekommt Bolivien so nicht in den Griff.

Bolivien bekommt die Corona-Pandemie nur schwer in den Griff. Foto: ABI

"No mentiras", "Keine Lügen" heißt eine Fernsehsendung in Bolivien. Sie nimmt für sich in Anspruch, 30 Minuten die ganze, gegebenenfalls unbequeme Wahrheit zu zeigen - auch auf die Gefahr hin, weit über das Ziel hinauszuschießen. Am 17. Juni, vor einem Monat, sendete das TV-Magazin live aus einem Krankenhaus in der Millionenmetropole Santa Cruz. Die Bolivianer vor ihren Fernsehgeräten konnten in Echtzeit dem Todeskampf eines COVID-19-Patienten zusehen, während die Ärzte verzweifelt versuchten, ihm das Leben zu retten.

Es gab kein Happy End, der Patient starb, hunderttausende Bolivianer waren Zeuge. Während viele die Sensationsberichterstattung des Senders PAT geißelten, nannten die Macher ihre Sendung einen Weckruf - sie wollten damit die Behörden wachrütteln, die bei der Pandemiebekämpfung auf ganzer Linie versagt hätten.

Boliviens Gesundheitssystem kollabiert

Über 50.000 Corona-Fälle hat Bolivien, eine immense Dunkelziffer, beinahe 2.000 Tote. Zur unbequemen Wahrheit gehört, dass das bolivianische Gesundheitssystem mit dem Ausbruch des Virus heillos überfordert ist. Oder wie es der Arzt Fernando Patiño aus La Paz sagt: "Die Situation ist alarmierend, weil wir jetzt auch immer mehr Corona-Fälle im Hochland haben!" Das Virus hat sich in den vergangenen Wochen aus den Dschungelgebieten in andere Landesteile verbreitet.

Der Mediziner Patiño wird oft gefragt in diesen Tagen - weil er zu den besten Onkologen des Landes zählt, ausgerechnet an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, USA, geforscht hat und gnadenlos den Finger in die Wunde legt, wenn es um den Zustand des Gesundheitssektors geht: "Unser System, sei es staatlich oder privat, ist frühzeitig kollabiert. Viele Menschen hier sind ohne Diagnose und ohne ärztliche Hilfe einfach weggestorben. In der Amazonasregion ist das Gesundheitswesen sogar auf dem Stand von vor einem halben Jahrhundert stehengeblieben."

Fehlende Investitionen im Medizinsektor

42 Krankenhäuser in Bolivien behandeln mittlerweile COVID-19-Patienten, 405 Intensivbetten sind über das Land verteilt, 331 von ihnen sind neu. Schon das reicht nicht, die Krankenhäuser nehmen oft keine weiteren Patienten mehr auf. Vor allem aber fehlt es an allen Ecken und Enden an Corona-Tests. Und wenn eine Person mit Symptomen doch getestet wird, dauert es zwei bis drei Wochen, bis das Ergebnis kommt.

In der Corona-Krise rächt sich, dass das Gesundheitswesen über Jahrzehnte vernachlässigt wurde. "Bolivien hat in den vergangenen Jahren ein Wirtschaftswachstum von jährlich fünf Prozent gehabt, aber nichts davon wurde in die Krankenhäuser oder in die Ausbildung von Ärzten gesteckt", erklärt Fernando Patiño.

Die Metropole Santa Cruz hatte in den 1990er Jahren eine Million Einwohner und fünf Hospitäler. Heute, mit drei Millionen Einwohnern, sind es immer noch dieselben fünf. Der Arzt glaubt nicht, dass Bolivien das Virus in den Griff bekommt: "Ich habe kurzfristig wenig Hoffnung. Wir haben auch zu wenig Personal, um die Quarantäneregeln zu kontrollieren."

Die Politik beschleunigt die Corona-Pandemie

Und so gehen immer wieder Bilder von leblosen Körpern um die Welt, die - notdürftig mit Planen bedeckt - auf den Straßen oder vor den Krankenhäusern abgelegt werden. Der Corona-Ausbruch in Bolivien hat aber nicht nur mit den langjährigen Defiziten im Medizinsektor zu tun, sondern ganz wesentlich mit aktueller Politik.

"Die MAS-Partei hat die Pandemie politisiert. Sie sagten, das Virus sei eine Erfindung der rechten Übergangsregierung. Und die Menschen gingen deswegen wieder auf die Straße", sagt Renán Estenssoro, Leiter der unabhängigen Stiftung für Journalismus in La Paz. Am Dienstag hatten tausende regierungskritische Demonstranten unter anderem gegen Mängel im Gesundheits- und Bildungswesen protestiert.

MAS steht für Movimiento al Socialismo - die Partei, die mit ihrem Präsidenten Evo Morales von 2006 bis 2019 dreizehn Jahre lang die Geschicke in Bolivien bestimmte und nun in der Opposition sitzt. Währenddessen versucht Morales, der das erste indigene Staatsoberhaupt Boliviens war, aus dem argentinischen Exil Politik zu machen. "Evo kontrolliert Bolivien immer noch über die Straße und weiß die Menschen zu mobilisieren", erklärt Estenssoro.

Ein tief gespaltenes Land

Was damals, im Oktober und November vergangenen Jahres, bei der Präsidentschaftswahl in Bolivien geschah, dafür gibt es immer noch zwei Lesarten. Für die einen war es die Flucht eines Präsidenten, der für seine Wiederwahl die Verfassung bis zum Äußersten gebogen hatte und noch nicht einmal vor einem Wahlbetrug zurückschreckte.

Für die anderen war es nichts anderes als ein Putsch des rechten Establishments mit Beihilfe der aus den USA gesteuerten Organisation Amerikanischer Staaten.

Wie so oft in Lateinamerika schlug das Pendel dann ins andere Extrem - und spülte in Bolivien mit Jeanine Áñez eine ultrarechte Katholikin ins Amt, die auf Twitter Indigene beleidigte und als erste Amtshandlung alle Che-Guevara-Porträts im Präsidentenpalast entfernen ließ. Ursprünglich wollte die Politikerin der kleinen liberalkonservativen Partei Movimiento Demócrata Social nur bis zu den Neuwahlen im Mai 2020 Übergangspräsidentin bleiben.

Doch Áñez fand zunehmend Gefallen an der Macht - und dann kam Corona. Jetzt bleibt die Vertreterin der weißen Wirtschaftselite sogar bis zum neuen Wahltermin am 6. September - ohne demokratische Legitimation, ohne parlamentarische Mehrheit und ohne Rückhalt in der Bevölkerung. Laut Umfragen rauschten ihre Popularitätswerte in der Bevölkerung von anfangs 30 Prozent auf nunmehr sieben Prozent in den Keller.

Die an Kuriositäten reiche Entwicklung in Bolivien hat jetzt noch eine überraschende Wendung mehr genommen: Ausgerechnet Jeanine Áñez ist nach einem positiven Corona-Test in Quarantäne - mitsamt einiger ihrer Minister. "Möge Gott bei uns sein", erklärte die bibelfeste Übergangspräsidentin, die sich wegen der Corona-Krise nun durchaus vorstellen kann, die Wahlen noch einmal zu verschieben.

Die MAS-Partei und Evo Morales haben schon angekündigt, gegen dieses Vorhaben zu protestieren. Für den Journalisten Renán Estenssoro wäre es das schlimmste denkbare Szenario: "Wenn die Wahlen noch einmal verschoben werden, werden wir nicht nur Corona-Tote haben, sondern auch wieder Gewalt auf den Straßen."

Autor: Oliver Pieper, Deutsche Welle

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