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Rezension: "Brasilien über alles - Bolsonaro und die rechte Revolte"

Mit "Brasilien über alles" legt der Journalist Niklas Franzen ein kenntnisreiches Sachbuch über die gesellschaftlichen Bedingungen für den Erfolg von Brasiliens rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro und seinen demokratiefeindlichen "Bolsonarismus" vor.

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro gib sich gerne volksnah - hier bei seiner Ankunft in Caruarua am 23. Juni 2022. Foto: Chega a Caruaru, Isac Nóbrega/PR, Palácio do Planalto, CC BY 4.0

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro gib sich gerne volksnah - hier bei seiner Ankunft in Caruarua am 23. Juni 2022. Foto: Chega a Caruaru, Isac Nóbrega/PR, Palácio do PlanaltoCC BY 4.0

Im Oktober stehen in Brasilien die nächsten Präsidentschaftswahlen an. Nach fast vier Jahren rechtsextrem-marktradikaler Regierung unter Führung des einstigen Hinterbänklers Jair Bolsonaro schaut das Riesenland in einen Abgrund aus Armut, Ungerechtigkeit und Verzweiflung. Über sieben Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer sind in der Corona-Pandemie neu in Armut gefallen. Heute gehören sie zu der Gruppe der 23 Millionen, die mit weniger als 40 Euro im Monat über die Runden kommen muss. Jeder zehnte Erwachsene in Brasilien hat keinen Job. Wer kein Einkommen hat, kann sich und seine Familie nicht ernähren. Des einen Leid ist des anderen Freud. Und so, titelte jüngst die britische BBC, nutzten die Superreichen die Pandemie für einen "spektakulären Aufstieg der Milliardäre in Lateinamerika", allen voran: Brasilien.

Soziale Missstände häufen sich

Diese Zahlen sind kalt. Sie schaffen es nicht annähernd, das Leid und die Verzweiflung all derer, die hinter den amtlichen Datenkolonnen zum katastrophalen Zustand der brasilianischen Gesellschaft stehen, nachzuempfinden. Doch diese Verwerfungen sind keine Naturkatastrophen, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen und wirtschaftlicher Interessen, wie Franzen analysiert. Bolsonaro hat die Steuern für Unternehmen, Industrie und deren Eigentümer gesenkt, staatliches Eigentum privatisiert, die Gelder für öffentliche Bildung und Gesundheit gekürzt, die lang erkämpften Rechte indigener Völker geschwächt, günstige Rahmenbedingungen für die Abholzung des Regenwaldes durch Agrokonzerne und Bergbaufirmen geschaffen sowie heimische Umwelt- und Klimaschutz-Institutionen systematisch geschwächt. Frauen, Schwule, Lesben und sexuelle Minderheiten greift Bolsonaro offen an und schreckt auch nicht davor zurück, Gewalt, Folter und die einstige Militärdiktatur zu verherrlichen.

Umfragen sehen Lula vorne

Doch allen Attacken des brasilianischen „Tropen-Trumps“ zum Trotz bleibt die alle vier Jahre anstehende Wahl in der größten Demokratie Südamerikas ein verlässliches Maß für die politische Stimmung im Land. Aktuellen Umfragen zufolge liegt Ex-Präsident Luíz Inácio "Lula" da Silva, der sich die Armutsbekämpfung auf die Fahnen schreibt, klar vor Amtsinhaber Jair Bolsonaro. 

Wie aber konnte es geschehen, dass in einem Land, dessen Bevölkerung als tolerant gilt und die Überwindung von Ungleichheit und Armut wünscht, in großer Mehrheit einem wütenden Hetzer und Menschenfeind derart auf den politischen Leim gehen konnte? Warum wendeten sich so viele von der Linken ab, stimmen einfache Studenten, Hausfrauen oder Bauern vom Land für einen Mann, der aus genau der privilegierten Gesellschaftsschicht entspringt, welche die einfachen Leute offen verachtet und damit Teil des Problems, nicht der Lösung ist? Dieser Frage geht der Journalist Niklas Franzen in seinem Erstlingswerk "Brasilien über alles" nach. 

Analyse von Politik und Gesellschaft

Wie ein Detektiv mit Soziologie-Lupe vor dem Auge hat der Brasilien-Experte, der mehrere Jahre in São Paulo lebte und als Auslandskorrespondent für Tageszeitungen wie "taz" und "Neues Deutschland" arbeitet, seine detaillierten Beobachtungen von Politik und Gesellschaft, vor allem aber im Gespräch mit Brasilianerinnen und Brasilianer verschiedenster Milieus und Weltanschauungen kenntnisreich zu Papier gebracht.

Anschaulich und verständlich nimmt Franzen die Leserschaft mit auf eine zwei Jahre dauernde Expedition durch den Dschungel brasilianischer Innenpolitik und die Mentalitäten seiner vielschichtigen Bevölkerung in Stadt und Land.

Gespräche mit Anhängern und Gegnern

Zu Wort kommen Bolsonaro-Bewunderer ebenso wie Lula-Anhänger - und das sorgt für eine ideologisch ausgeglichene Sicht. Ob beim Interview im Berliner Einstein-Café mit dem ambitionierten Ex-Strafermittler und späteren Justizminister Sergio Moro, der im Lava-Jato-Korruptionskandal erst die PT zu Fall und schließlich Lula hinter Gitter brachte und so dessen Wiederwahl verhinderte. Ob im Gespräch mit dem jungen Mann Silas im Arbeiterstadtteil Itaquera im Osten von São Paulo, früher eine PT-Hochburg, der, wie viele seiner Nachbarn, Bolsonaro seine Stimme gab, weil er von der Politik enttäuscht ist und genug hat von Kriminalität und Korruption, und darum ein Zeichen gegen "die alte Politik" setzen wollte. Ob auf einer Anti-Lula-Demonstration mit der Hausfrau Zilda, die viel auf Facebook unterwegs ist und aus Angst vor einer "kommunistischen Diktatur" wie auf Kuba auf offener Straße PT-Fahnen verbrennt.

Ob im analytischen Austausch mit dem marxistischen Gelehrten Paulo Cuenca, der Bolsonaro als Teil der brasilianischen Seele interpretiert. Oder beim Besuch der jungen Mutter Conceição, die in einer Zeltstadt vor den Toren vor der Millionenstadt São Paulo haust und sich der Landlosen-Bewegung "Movimento Sem Terra" (MST) angeschlossen hat, deren Mitglieder von Bolsonaro als "Terroristen" bezeichnet werden. Auf jeder der 207 Seiten erkennt der Leser ehrliches Interesse und eine tiefe Zuneigung des Autors für die Menschen dieses tragischen Landes zwischen Amazonas und Atlantik.

Lehrstück über rechten Populismus

Vor allem aber ist das Buch auch ein Lehrstück. Es zeichnet den kometenhaften Aufstieg Bolsonaros vom verrückten No-Name-Politiker zum mächtigen Staatschef einer der größten Volkswirtschaften der Welt nach. Franzen zeigt, wie es Bolsonaro gelingen konnte, mit Fake-News sowie durch Selbstinszenierung als Opfer linker Verschwörung und mit Hilfe der Herabwürdigung des politischen Gegners und demokratischer Errungenschaften in breiten Kreisen der Bevölkerung zu punkten. Schnell wird deutlich, dass rechtsradikale Politik "auf dem Boden von Ängsten" wächst und in den meisten Fällen "die Folge schwerer Krisen" ist. 

Bolsonarismus hat Brasilien gespalten

Im Augenblick stehen die Chancen nicht schlecht, dass Brasilien im Oktober von einem neuen Präsidenten regiert wird. Ob dieser die Krisen erfolgreicher und vor allem gerechter bekämpft, das gilt abzuwarten. Der „Bolsonarismus" aber, warnt Franzen, "wird sich nicht einfach in Luft auflösen". Bolsonaros Ideen und sein Politikstil seien gekommen, um zu bleiben. Und sie haben Brasilien bereits verändert. Jeder müsse, so der eindringliche Apells des Autors, Bolsonaros rechte Revolte verstehen, um sie wirksam zu verhindern. Und das nicht nur in Brasilien.

Franzen, Niklas
Brasilien über alles
Bolsonaro und die rechte Revolte
ISBN 978-3-86241-492-5 | erschienen 05/2022 | 208 Seiten | Paperback |18,00 €

Autor: Benjamin Beutler

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